Die Chroniken von Amarid 03 - Das dunkle Herz von Lon Ser
»Berichts von Eulenmeister Baden über seine Verhöre des Ausländers Baram«, vorgelegt auf der 1014. Versammlung des Ordens der Magier und Meister, im Frühjahr des Gottesjahres 4625.
Sie erwachte schaudernd und nach Luft schnappend und musste sich nach dem Licht ihrer Vision nun wieder an das Dunkel der Nacht gewöhnen. Sie zitterte, und sie konnte spüren, wie ihr feuchtes Haar an ihrem verschwitzten Gesicht klebte. Sie spürte einen trockenen Schmerz in Hals und Mund. Sie zwang sich, sich hinzusetzen, und tastete nach dem Becher Wasser neben ihrem Bett. Als sie ihn gefunden hatte, trank sie gierig. Sie blieb im Bett sitzen, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und atmete tief, um sich zu beruhigen.
Nach einer Vision war es immer so. Nicht dass sie eine Bestätigung dafür brauchte, dass ihr Traum prophetischer Art gewesen war. Sie hatte es schon gewusst, als er begonnen hatte. Sie war eine Gildriitin, sie hatte ihr Leben lang solche Visionen gehabt. Und nach einer Weile lernte man, sie zu erkennen.
Sie spähte zu der Uhr mit den Leuchtziffern auf ihrem Nachttisch. Die Sonne würde noch mehrere Stunden lang nicht aufgehen. Sie wusste, sie brauchte ihren Schlaf: Die Ausbildung war anstrengend, geistig und körperlich, und sie durfte als Anführerin keinesfalls hinterherhinken, während ihre Männer das Tempo bestimmten. Aber sie musste auch über die Vision nachdenken, und sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie sich auf nichts anderes konzentrieren konnte, ehe sie nicht darüber nachgedacht hatte. Erschöpfung konnte man beiseite schieben, aber es konnte gefährlich sein, sich von seinen eigenen Gedanken ablenken zu lassen.
Also schaltete Melyor das Licht an, stand auf und zog einen Morgenmantel über. Sie ging zu dem einzigen Fenster des kargen Zimmers, starrte auf die Lichter des Nal hinaus und begann, ihre Erinnerungen an den Traum durchzugehen.
Sie hatte einen Mann gesehen, groß und kräftig gebaut, mit langem blondem Haar, dunklen Augen und einem Bart. Er trug einen Vogel auf der Schulter, einen großen, dunkel gefiederten Falken, und hielt einen Stab mit einem bernsteinfarben leuchtenden Stein in der Hand. Sein Umhang war grün, ganz ähnlich wie die, die Melyor und ihre Männer bei ihrer Ausbildung trugen. Vor einem Jahr noch hätte eine solche Vision sie erschreckt, aber wenn man bedachte, was das Ziel ihrer derzeitigen Ausbildung war, hätte es sie eigentlich nicht überraschen sollen. Nur dass sie den Zauberer im Traum nicht in den Wäldern oder Bergen von Tobyn-Ser gesehen hatte, sondern hier im Nal, wenn auch in einem Teil, den sie nicht wiedererkannte. Und sie hatte ihn nicht als ihren Feind betrachtet, sondern hatte sich selbst erblickt, wie sie an seiner Seite kämpfte, wie ihr Werfer und sein Stab tödliche rote und bernsteinfarbene Blitze auf unsichtbare Feinde abfeuerten.
Sie konnte sich nicht vorstellen, was das bedeuten sollte, aber sie war sicher, dass die Anwesenheit des Zauberers in Lon-Ser ihren Plänen nur schaden konnte. Selbst wenn sie aus irgendeinem Grund zusammen kämpften, hatte das für ihre Position im Nal nichts Gutes zu bedeuten. Und wenn der Fremde in einer Friedensmission nach Lon-Ser kam, was nach Calbyrs Mission wahrscheinlich schien, dann würde das ihre eigene Tobyn-Ser-Initiative gefährden. Die Initiative wiederum war jedoch der Eckpfeiler ihrer Pläne, die Grundlage von allem, worauf sie sich vorbereitet und wofür sie gearbeitet hatte.
Wenn die Initiative Erfolg haben sollte - und Melyor erwartete das -, würden ihr Macht und Reichtum zufallen. Cedrych würde mit einiger Sicherheit zum Herrscher werden, wenn Durell die Position aufgab oder starb, und sie selbst würde dann seine Position als Oberlord einnehmen. Und wenn Cedrychs Zeit als Herrscher zu Ende ginge, wäre sie die erste Wahl, ihn zu ersetzen. Sie würde über Bragor- Nal herrschen. Und das bedeutete im Grunde Herrschaft über ganz Lon-Ser.
Jeder, der auch nur den geringsten Verstand hatte, begriff die Verteilung der Macht im Herrscherrat. Marar, Herrscher von Stib-Nal, schloss sich in allen wichtigen Entscheidungen Durell an, und das gab Bragor-Nal praktisch die Kontrolle über die Ratspolitik. Dies war schon so gewesen, bevor Durell, Marar und die derzeitige Herrscherin von Oeral-la-Nal, Shivon, an die Macht gekommen waren. Es reichte bis in die Zeit der Festigung zurück. Als Dalrek, Herrscher von Bragor-Nal zu diesem Zeitpunkt, begriff, dass er Oerel-la-Nal nicht besiegen konnte,
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