Die Chroniken von Amarid 04 - Die Retterin des Landes
ein potenzieller Feind. Aber zumindest jagte man sie nicht mehr.
Es dauerte noch weitere anderthalb Tage, bis sie den Westrand des Vierten erreichten, und einen weiteren Tag, bis sie in der Nähe von Melyors Wohnung angelangt waren. Inzwischen hatte Dob vermutlich begonnen, seinen Aufstieg zum Oberlord zu planen. Er würde ganz bestimmt nicht erwarten, Jibb so bald wiederzusehen. Jibb schüttelte den Kopf, als er nun an einer Drei-Wege-Kreuzung in den unterirdischen Gängen stand. Einer dieser Wege würde ihn zu Melyors alter Wohnung führen. Es wäre erheblich klüger, wenn Dob erst einmal versuchte, den Vierten Bezirk zu sichern. Er war erst seit kurzem an der Macht, und er war immer noch geschwächt von seinem Kampf gegen Bowen. Er würde gegen die etablierteren Nal-Lords in Cedrychs Herrschaftsbereich keine Chance haben. Aber obwohl Jibb Dob nicht sehr gut kannte, verstand er das Denken des Mannes gut genug, um zu wissen, dass Dob - wie die meisten Gesetzesbrecher - zu solcher Zurückhaltung nicht fähig war. Er würde versuchen, Oberlord zu werden, und sich dadurch angreifbar machen.
Andererseits ... Jibb schüttelte leise lachend zum zweiten Mal den Kopf: Wenn man es recht bedachte, dann hatte Dob wahrscheinlich eine ebenso gute Chance wie jeder andere. Nachdem Savil tot war und Melyor verschwunden, gab es in Cedrychs altem Bereich keine sonderlich starken Nal-Lords mehr. Wäre sie noch da gewesen, hätte Melyor zweifellos die eindeutige Favoritin in diesem Rennen um die Position als Nachfolger des einäugigen Oberlords dargestellt, aber ohne sie war es ein offenes Rennen mittelmäßiger Rivalen. Das kam Jibb irgendwie falsch vor. Melyor hatte den Herrschaftsbereich mehr verdient als jeder andere. Wieder einmal, und scheinbar zum tausendsten Mal seit dem Abend, als er sie mit dem Steinträger und dem Zauberer gesehen hatte, fragte sich Jibb, wo Melyor war und ob sie überhaupt noch lebte.
Er hörte Schritte, drehte sich um und sah Premel und den Rest seiner Einheit näher kommen. Noch vor ein paar Wochen hätte das Geräusch von Schritten Jibbs Pulsschlag zum Rasen gebracht. Aber nachdem er nun so lange Zeit auf der Flucht gewesen war, hatte er offenbar so etwas wie einen sechsten Sinn entwickelt. Er hatte festgestellt, dass er Ärger spürte, bevor etwas geschah, und er geriet nicht mehr unnötig in Panik.
»Was gibt's?«, fragte Jibb, als Premel vor ihm stehen blieb. Der früher stets rasierte Schädel des Gesetzesbrechers war nun mit kurzen, dunklen Borsten bedeckt.
»Wir haben nichts Ungewöhnliches gesehen«, erwiderte Premel. »Aber wir haben Neuigkeiten von oben.« Er hielt inne, um Jibbs Reaktion abzuwarten. Premel war ein guter Mann, aber er neigte dazu, sich ein wenig dramatisch zu geben.
»Raus damit!«
»Sieht so aus, als wollte Bowen sich aus dem Kampf um die Position des Oberlords raushalten. Er unterstützt Enrek, und meine Quellen behaupten, dass Enrek vorhat, den Zweiten und den Vierten unter Bowens Befehl zu stellen, sobald er Oberlord ist.«
Jibb nickte und dachte über Premels Worte nach. Das war eine vernünftige Strategie. Auf sich allein gestellt war Enrek nicht besser dran als die anderen Nal-Lords. Tatsächlich war er als Anführer des Sechsten Bezirks von Feinden umgeben und in einer schlechten strategischen Position. Aber wenn Bowen hinter ihm stand, hatte er einen bedeutenden Vorteil. Und Bowen selbst tat genau das, was er tun sollte: Er ließ sich Zeit, sammelte seine Kräfte, und damit machte er sich automatisch zum wahrscheinlichsten Nachfolger Enreks, falls der Plan funktionieren sollte. »Hast du irgendetwas über Dob erfahren?«, fragte Jibb schließlich.
Der Gesetzesbrecher grinste und entblößte dabei scharfe gelbliche Zähne.
»Selbstverständlich wird er kämpfen. Seit er den Vierten eingenommen hat, hält er sich für unbesiegbar.« Die anderen Männer im Tunnel murmelten zustimmend.
»Was hat er vor?«
Premels Grinsen wurde breiter. »Er stellt sich gegen alle, wie zu erwarten war.« Die anderen lachten.
»Gut. Wir bleiben noch eine Weile hier. Ich möchte, dass um Mitternacht zwei Einheiten in jedem Block rings um Melyors Wohnung bereitstehen. Ich übernehme mit der unvollständigen Einheit den Block im Nordosten. Ihr andern könnt euch verteilen, wie ihr wollt, aber macht schnell. Ich will vor dem Morgengrauen fertig sein. Verstanden?« Premel nickte. Seine Augen glitzerten gierig, und der große Goldreif in seinem Ohr schimmerte im trüben Licht wie
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