Die Chroniken von Amarid 05 - Der Adlerweise
anzugreifen, dann habe ich von dir nichts zu befürchten!«
Ich habe dich absichtlich verfehlt, du Idiot!, hätte Orris am liebsten zurückgerufen. Stattdessen holte er tief Luft, um sich zu beruhigen. In der letzten Zeit hatten die Magier der Liga diese Taktik öfter angewandt. Sie konnten ihn nicht davon abhalten zu fliehen, aber sie versuchten stets, ihn dazu zu provozieren, gegen sie zu kämpfen.
»Wenn ich es gewollt hätte, wärst du längst tot«, sagte Orris ruhig.
Wieder feuerte der Fremde, traf abermals den Baumstamm und entfachte damit ein kleines Feuer. »Nun, hier bin ich, Verräter!«, erwiderte er. »Warum tötest du mich nicht?«
Orris schüttelte den Kopf, obwohl der Mann ihn nicht sehen konnte. »Ich bringe keine Kinder um.« Er bedauerte diese Worte, sobald er sie ausgesprochen hatte.
»Nein«, stürzte sich der Mann sofort auf Orris' Aussage. »Du bist sogar dazu zu feige. Stattdessen hilfst du denen, die Kinder töten! Du befreist sie aus ihren Gefängniszellen und bringst sie wieder nach Hause zurück!«
Orris schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Wie viele von diesen Beschimpfungen würden ihm die Götter noch zumuten? Wie lange sollte er sich noch an seinen Schwur halten? Ja, er hatte Baram aus dem Gefängnis geholt und ihn nach Lon-Ser zurückgebracht. Er gab sogar zu, dass er damit gegen die Wünsche des Ordens verstoßen hatte, obwohl über diese Angelegenheit nie offiziell abgestimmt worden war. Aber er hatte es getan, um das Land zu retten, nicht um es zu verraten. Und Baram war in Bragor-Nal gestorben. Orris konnte immer noch das Lächeln des Fremden sehen, als er die Fensterbank vor Cedrychs Arbeitszimmer losließ und auf das Pflaster tief unten zustürzte. Baram war tot. Also hatten sie doch erreicht, was alle wollten, oder?
Dennoch zuckte ein weiterer grüner Blitz aus dem Ceryll des Mannes direkt über Orris' Kopf hinweg. Als er aufblickte, erkannte Orris, dass der kleine graue Falke wieder aus seinem Versteck gekommen war und nun zweifellos sehen konnte, wo er und Kryssan sich versteckten. Er ließ seinen eigenen Stein kurz aufleuchten und feuerte zwei kleine Salven auf die Äste oberhalb und unterhalb des Vogels.
Der Falke flatterte auf, schrie abermals und begann, weit über den Wipfeln zu kreisen und dabei kläglich zu krächzen.
Wieder feuerte der Fremde, aber die Blitze zuckten weit über Orris hinweg.
»Du greifst meinen Vogel an, aber an mich wagst du dich wohl nicht heran, wie, Verräter?«
Orris hatte die Angriffe der Liga nun mehrere Jahre lang ertragen und immer wieder dem Drang widerstanden, die Gewalttätigkeit einzusetzen, die einmal so sehr Teil von ihm gewesen war. Diese letzte Bemerkung jedoch ließ seine Entschlossenheit zusammenbrechen. Er konnte akzeptieren, was sie ihm angetan hatten. Er konnte akzeptieren, dass sie ihn töten wollten. Aber sie hatten Anizir umgebracht. Und nun besaß dieser Mann die Unverschämtheit, Orris der Feigheit zu bezichtigen, weil er zwei Salven magischen Feuers in die Richtung des Vogels abgeschossen hatte, die beide so berechnet gewesen waren, dass sie den Falken nicht trafen. Das war einfach zu viel!
Orris stand auf und bat Kryssan mit einem Gedanken auf seine Schulter. Sofort entsandte der Ligamagier sein Feuer nach ihm, aber Orris schützte sich mit einer Mauer bernsteinfarbener Macht und bewegte sich auf den Mann zu. Der junge Magier feuerte ein zweites Mal, Augen und Mund vor Unglauben und Angst weit aufgerissen. Wieder blockierte Orris den Angriff ohne große Anstrengung. Dieser Fremde war noch nicht an seine eigene Macht gewöhnt, und er war ohnehin nicht sonderlich stark. Orris hingegen hatte schon häufig gegen andere Magier gekämpft. Grinsend ging er weiter auf den anderen zu. Der Mann beeilte sich zu fliehen und pfiff nach seinem Falken, als er zu rennen begann.
Hol ihn dir!, wies Orris Kryssan an.
Kryssan verließ Orris' Schulter, holte den Magier in ein paar Sekunden ein und brachte ihn mit einem Flügelschlag in den Rücken aus dem Gleichgewicht. Dann kreiste sie und schoss auf den Kopf des Mannes zu. Der Magier schrie auf und duckte sich, um sich vor dem Angriff des Falken zu schützen. Als Orris ihn einholte, hatte er immer noch die Arme vors Gesicht gehoben.
Als er sah, wie Orris sich näherte, versuchte der Magier zum letzten Mal, ihn mit Feuer anzugreifen. Aber bevor er das schaffte, ließ Orris seinen eigenen Stab auf die Schulter des Magiers niedersausen, was den Mann endgültig zu Boden
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