Die Chroniken von Amarid 05 - Der Adlerweise
Baden antworten. Aber sein Neffe war bereits weg. Der Eulenmeister öffnete die Augen, und sofort wurde sein Blick wieder von den Feuern auf den Smaragdhügeln angezogen. »Arick behüte unser Land«, sagte er laut. Er sah noch eine Weile in Richtung der Feuer, dann drehte er sich um und kehrte ins Haus zurück.
Am nächsten Tag erwachten sie früh am Morgen und bereiteten sich auf die Reise nach Amarid vor. Bei einem bescheidenen Frühstück erzählte Baden Sonel von Jaryds Bindung und fand das Entsetzen und die Angst, die er am Abend zuvor empfunden hatte, in ihrem Blick gespiegelt. »Ein Adler!«, hauchte sie. »Das ist das Letzte, was ich erwartet hätte, als die Cerylle begannen, uns zur Versammlung zu rufen.«
Baden nickte. »Mir ging es ebenso.«
»Ich bin nicht gerade froh über die Ergebnisse des Handels mit Lon-Ser«, fuhr sie fort. »Aber ich dachte, die Gefahr eines Krieges wäre lange vorüber.«
»Du glaubst also, dass es um einen Krieg gegen Lon-Ser geht?«
»Gegen wen sonst?«, fragte sie überrascht.
Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aber ich denke, es ist gefährlich, voreilige Schlüsse zu ziehen.«
Sonel schwieg einen Augenblick. »Du hast wohl Recht«, sagte sie schließlich. »Obwohl ich nicht wüsste, wer sonst unser Feind sein sollte. Abborij würde uns doch sicher nicht angreifen.«
»Wahrscheinlich nicht.«
Es gab noch eine andere Möglichkeit, wie Baden wusste, eine, die ihn viel mehr ängstigte als die Aussicht auf einen Krieg mit Lon-Ser, aber er wollte nicht darüber sprechen. Noch nicht, nicht einmal mit Sonel.
Sonel sah ihn erwartungsvoll an, aber er schwieg, und sie bedrängte ihn nicht.
Kurz nach Mittag machten sie sich auf den Weg und folgten dem schmalen Pfad von ihrem Garten durch den Wald, bis sie eine der vielen Holzfällerstraßen erreichten, die sich nun durch den Gotteswald zogen. Als sie dort angekommen waren, wechselten sie einen Blick und lächelten dann beide, wie sie es schon so oft zuvor getan hatten, wenn sie diese Reise unternahmen. Sie waren beide nicht froh über die Straßen und über den Holzhandel, der sie notwendig gemacht hatte. Aber auch die Eulenmeister konnten nicht abstreiten, dass die breiten, geraden Straßen die Reise nach Amarid schneller und leichter machten als je zuvor. Darin lag eine gewisse Ironie, die sie schon seit längerem bemerkt hatten.
In den vergangenen Monaten waren sie auch gezwungen gewesen zuzugeben, dass viele Dörfer und Städte des Landes vom Holzhandel profitierten. Die Häuser und Läden in diesen Siedlungen sahen stabiler und gepflegter aus als je zuvor, die Menschen waren wohlgenährt und gut gekleidet, und in jenen Dörfern, in denen die blauen Fahnen der Liga wehten, konnten Baden und Sonel ein geringfügiges, aber eindeutiges Nachlassen der Feindseligkeit der Menschen gegenüber dem Orden spüren. Der Wohlstand war offenbar Balsam für viele Wunden des Landes.
Das sollte allerdings nicht heißen, dass Baden und Sonel den erstaunlichen Anstieg des Holzhandels begrüßten. Wie sie bereits am Vorabend wieder einmal festgestellt hatten, wünschten sie sich beide, der Orden könnte etwas unternehmen, um den Umfang des Kahlschlags, der unter der Oberhoheit der Tempel stattfand, zu begrenzen. Aber anders als viele ihrer Kollegen im Orden, darunter auch Trahn und Ursel, betrachteten sie Tobyn-Sers zunehmende Handelsaktivitäten nicht ausschließlich als schädlich.
Dennoch waren sie von dem Anblick verstört, der sich ihnen im Südteil von Tobyns Wald bot. Seit der Mittsommerversammlung war kaum ein halbes Jahr vergangen, und dennoch waren bereits in dieser kurzen Zeit gewaltige Teile des Waldes abgeholzt worden. Man hatte nirgendwo versucht, die Schäden am Land zu begrenzen oder auch nur Setzlinge anzupflanzen, die einmal die riesigen Eichen, Ahornbäume und Ulmen ersetzen könnten, die man abgeholzt hatte. Es gab Baumstümpfe, verkümmertes Unterholz, ein paar vergessene Äste und sonst nichts. Der Anblick quälte Baden zutiefst, und er fragte sich, ob Wohlstand und Zufriedenheit wirklich so viel wert sein konnten.
Zehn Tage, nachdem sie ihr Haus verlassen hatten, erreichten die beiden Eulenmeister das Südufer des Dhaalismin und folgten dem Fluss zwei Tage lang nach Südosten, bis sie zu einer Brücke kamen. Selbst dem Fluss sah man an, wie sehr das Land unter dem Kahlschlag litt: Das Wasser des Dhaalismin war schlammig von angeschwemmter Erde aus den gerodeten Bereichen, das Flussbett teilweise verstopft
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