Die Chroniken von Amarid 05 - Der Adlerweise
gegeneinander führen.« Sie lächelte grimmig. »Es war vielleicht plump, aber Marars Plan ist alles andere als unwirksam.«
Wieder schwieg Wiercia, saß vollkommen reglos da und starrte auf ihre Hände. »Wenn du Recht hast«, sagte sie schließlich, »was können wir tun?«
»Ich bin noch nicht sicher«, gab Melyor zu und betrachtete ihren leuchtenden roten Stein. »Ich muss wissen, ob er wieder versuchen wird, mich zu töten, oder ob es ihm im Augenblick genügt, einen Keil zwischen die Matriarchie und Bragor-Nal zu treiben.« Sie blickte wieder auf und sah Wiercia direkt in die Augen. »Aber in der Zwischenzeit können wir zumindest weiter miteinander sprechen. Wir dürfen Marar nicht glauben lassen, dass er gewinnt.« »Warum nicht?«, fragte die Frau. »Wenn er davon überzeugt ist, dass er das Bündnis zwischen Oerella-Nal und Bragor-Nal bereits zerstört hat, wird er vielleicht davon absehen, weitere Anschläge auf dich zu verüben.«
Melyor spürte, wie sie grinste. Vielleicht konnte sie mit dieser strengen Person ja doch zurechtkommen. »Das ist ein interessanter Punkt. Obwohl ich nicht glaube, dass es mir das Leben retten könnte.«
»Warum nicht?«
Sie hob den Stab hoch. »Ich bin Gildriitin; ich bin sogar Steinträgerin.« Sie zuckte die Achseln. »Schon allein deshalb hat Marar mir nie getraut. Er wird wieder versuchen, mich zu töten. Aber du magst Recht haben: Wir können uns zumindest ein wenig Zeit verschaffen, indem wir ihn glauben lassen, dass sein Plan funktioniert.«
»Und wie machen wir das?«
»Indem wir so tun, als ob wir einander nicht über den Weg trauen.« Sie lächelte. »Das sollte dir leicht fallen.«
Zu Melyors Überraschung lächelte Wiercia ebenfalls. »Wie schade«, sagte sie. »Eine wirklich herausfordernde Aufgabe wäre mir lieber gewesen.« Einen Augenblick später verschwand das Lächeln jedoch wieder. »Dir ist klar, dass wir, falls du Recht haben solltest, vor einem anderen Problem stehen.«
Melyor blieb reglos und wartete. Sie wusste, was Wiercia sagen würde, denn sie hatte seit mehreren Tagen an das Gleiche gedacht. Marar war ihr geringstes Problem.
»Wenn Marar tatsächlich diese Bomben in unsere Nals geschmuggelt hat«, sagte die Frau, und sie wurde bleich, als sie ihre eigenen Worte zum ersten Mal laut hörte, »dann haben wir beide Verräter in unseren Sicherheitskräften. Und das bedeutet, dass wir beide in größter Gefahr sind.« »Ich weiß«, sagte Melyor und nickte. »Pass auf, wem du vertraust.«
Wiercia stieß ein leises freudloses Lachen aus. »Das sind von jemandem wie dir tatsächlich beunruhigende Worte.« Melyor versuchte noch einmal zu lächeln, aber sie hatte keinen rechten Erfolg damit. »Willkommen im Herrscherrat.«
Zunächst war er vor Zorn beinahe außer sich gewesen. Immerhin hatte er den Mann hervorragend bezahlt - erheblich besser als Shivohns Sicherheitsmann - und dafür hatte er Effizienz und Kompetenz erwartet. Er hatte schon viel zu viel Zeit und zu viel Geld dafür verschwendet, diesen Plan in die Wege zu leiten, um ihn sich von der Achtlosigkeit eines einzigen Mannes verderben zu lassen. Das hatte er dem Offizier der SiHerr auch noch am selben Abend erklärt, während der Rest von Melyors Männern damit beschäftigt gewesen war, die Fassade des Goldpalasts von Bragor-Nal zu reparieren. Und es hatte ihn gefreut zu sehen, wie der Mann angesichts seiner Drohungen für den Fall, dass er abermals versagen sollte, zurückgewichen war. Melyor und Shivohn hatten ihn immer für einen jämmerlichen Anführer gehalten, das war ihm klar. Sie hielten ihn für einen Dummkopf. Aber selbst wenn Stib-Nal das kleinste und schwächste der drei Nals war, war es doch eine gewaltige Leistung, hier Herrscher zu werden. Marar war relativ sicher, dass Melyors Weg zur Macht und sein eigener ganz ähnlich verlaufen waren. Wie in Bragor-Nal gab es auch in Stib-Nal eine strenge Hierarchie, innerhalb deren der Aufstieg Ergebnis von Klugheit und Kraft und ja, auch von ein wenig Glück war. Das System von Bragor-Nal arbeitete in erheblich größerem Maßstab, aber die Ähnlichkeiten waren zu bedeutend, als dass man sie übersehen konnte. Alle in Stib-Nal, die ihn unterschätzt hatten, hatten diesen Fehler mit dem Leben bezahlt. Ebenso wie Shivohn. In vielerlei Hinsicht hatten er und Melyor viel gemeinsam. Und genau aus diesem Grund war nach ein paar Tagen des Nachdenkens sein Zorn verflogen. Er hatte gewollt, dass sie starb. Sie war Gildriitin, und das
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