Die Chroniken von Amarid 05 - Der Adlerweise
lassen.
Sehr wahrscheinlich würde sie auch bei der künftigen Herrscherin von Oerella-Nal keinen größeren Erfolg haben, selbst wenn sie Gelegenheit erhielte, mit ihr zu reden. Aber sie musste es versuchen. Es stand zu viel auf dem Spiel. Im Geist konnte sie immer noch die Explosion hören, die Shivohn getötet hatte. Melyor hatte es über den Sprechschirm gehört. Und sie sah immer noch die Miene der jungen Frau vor sich, die schließlich auf ihren Ruf geantwortet und nach einer quälend langen Pause mitgeteilt hatte, dass die Herrscherin tot war. Der Mord an Shivohn war nur eine Stunde nach dem Attentatsversuch auf Melyor selbst erfolgt, und das konnte Melyor kaum als Zufall betrachten.
Ihr Verdacht wurde zwei Tage später bestätigt, als sie von Jibbs Spionen erfuhr, dass man den Zünder der Bombe, die Shivohn getötet hatte, gefunden und festgestellt hatte, dass er aus Bragor-Nal stammte. Zwei Bomben, eine mit einem Zünder aus Oerella-Nal, die beinahe die Herrscherin von Bragor-Nal getötet hatte, und eine andere mit einem Zünder aus Bragor-Nal, die die Herrscherin von Oerella-Nal umbrachte. Ein so ungeschickter, auffälliger Plan konnte nur von einem einzigen Mann stammen: Marar, Herrscher von Stib-Nal. Wer sonst hatte bei einem Konflikt zwischen Oerella-Nal und Bragor-Nal etwas zu gewinnen? Seit Melyor Herrscherin war, war die jahrhundertealte Feindschaft zwischen den beiden größten Nals von Lon-Ser einer Periode des Einverständnisses gewichen, wie es noch nie zuvor geherrscht hatte. Als Ergebnis davon waren die Vorteile, die Stib-Nal als Verbündeter von Bragor-Nal innerhalb des Rates einmal gehabt hatte - so geringfügig sie gewesen waren - verschwunden, und Marars Nal war mitsamt seinem Herrscher endgültig in die Bedeutungslosigkeit abgesunken. Selbstverständlich stand er hinter den Anschlägen! Es war beinahe lachhaft offensichtlich. Zumindest kam es Melyor so vor.
Aber Wiercia und ihre Legatinnen ließen sich nicht überzeugen. Melyor hatte ihnen am Sprechschirm den Zünder der Bombe gezeigt, die im Goldpalast explodiert war, aber alle Legatinnen, mit denen sie gesprochen hatte, hatten das als nichtig abgetan, als einen weiteren Teil von Bragor-Nals tückischen Plänen, Shivohn zu ermorden. Als hätte Melyor nichts Besseres zu tun, als Attentatsversuche gegen sich selbst zu inszenieren und ihre mächtigste Verbündete in Lon-Ser umzubringen!
Es war absurd. Und dennoch, so lächerlich es war, Marars Intrige funktionierte. Im Lauf eines einzigen Morgens war es ihm gelungen, beinahe sieben Jahre der Zusammenarbeit zwischen seinen Rivalinnen zu zerstören. Wiercia und ihre Untergebenen glaubten, Shivohn sei von Agenten aus Bragor-Nal getötet worden, und Melyor wusste nicht, was sie noch tun sollte, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. »Es ist doch eindeutig genug«, sagte sie matt und wandte sich wieder dem Sprechschirm zu. »Am selben Tag, als Shivohn getötet wurde, wurde auch ein Anschlag auf mich verübt. Wir haben den Zünder der Bombe gefunden und -« »Ja, ich weiß«, warf die Legatin ungerührt ein. »Der Zünder dieser Bombe kam aus Oerella-Nal. Das haben wir schon gehört, Herrscherin. Wir haben bereits vor ein paar Tagen miteinander gesprochen. Die designierte Herrscherin Wiercia wird sich deine Beweise bei der nächsten Sitzung des Herrscherrats anschauen.«
Melyor schnaufte und rieb sich mit der Hand die Stirn. Sie war dummen Menschen gegenüber immer schon ungeduldig gewesen und wollte gerade der Legatin ordentlich die Meinung sagen, als ihr etwas einfiel. Sie erwartete kaum, dass es funktionieren würde, aber es war das Einzige, was ihr noch blieb. »Sag Wiercia, dass ich ihr persönlich zu ihrem neuen Amt gratulieren möchte, und das nicht nur als Herrscherin von Bragor-Nal, sondern auch als Steinträgerin und Botschafterin von Lon-Sers Gildriiten.« Die Legatin sah sie einen Augenblick lang skeptisch an. »Sag ihr außerdem«, fügte Melyor hinzu, griff lässig nach ihrem Stab mit dem leuchtenden roten Stein und legte ihn auf den Schreibtisch, wo er durch den Sprechschirm zu sehen war, »dass ich ihr eine Botschaft des Ordens der Magier und Meister in Tobyn-Ser überbringen möchte.« Die Frau zog die Brauen hoch, und nach einem weiteren Moment des Zögerns nickte sie und entfernte sich von ihrem Schirm.
Das Warten kam Melyor wie eine halbe Ewigkeit vor, und während die Minuten vergingen, begann sie sich zu fragen, ob ihr kleiner Trick funktioniert hatte. Aber gerade, als
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