Die Chroniken von Amarid 06 - Der Friede von Lon-Tobyn
anzusehen.
»Mag sein. Wer weiß, wie es oben in den Bergen aussieht.« Sie verzog das Gesicht und nickte.
Die anderen erwachten kurze Zeit später. Jaryd sah bleich und besorgt aus. Cailin konnte sich kaum vorstellen, wie ihm zumute sein mochte. Erland andererseits wirkte selbstzufrieden, obwohl er vernünftig genug war zu schweigen. Der Morgen verging nur langsam, und obwohl kein stärkerer Wind mehr aufkam, regnete es stetig weiter. Gegen Mittag jedoch wurde der Himmel heller, und endlich ließ der Regen nach.
Sofort besserte sich die allgemeine Stimmung. Selbst Erland schien aufrichtig erfreut. Sie blieben allerdings wachsam. Jaryd wies sie darauf hin, dass der Sturm bereits einmal zurückgekehrt war. Am Nachmittag jedoch war es nicht mehr zu leugnen: Die Wolken rissen auf, und ein oder zwei Mal spähte sogar die Sonne hindurch. Es wurde heller, und Dampf begann vom Waldboden aufzusteigen.
»Ich weiß nicht mehr, wann wir wieder Vollmond haben werden«, sagte Jaryd, als sie in den Sattel stiegen und losritten. »Aber ich möchte auf jeden Fall so lange wie möglich unterwegs sein. Wenn es sein muss, werden wir den Weg durch die Berge mit unseren Ceryllen beleuchten.«
Orris nickte und grinste. »Ich habe mich in den vergangenen zwei Tagen genug ausgeruht, dass ich nun eine Woche keinen Schlaf mehr brauche, wenn es sein muss.«
Sie verließen das Gehölz, aber bevor sie noch hundert Schritte zurückgelegt hatten, rief Trahn nach Jaryd. Sie zügelten ihre Pferde und blickten zu dem dunkelhäutigen Magier, der wie eine Statue auf seinem Pferd saß. Hinter ihm, zum Teil vom Wald verborgen, aber immer näher kommend, entdeckte Cailin etwas, das ihr Blut erstarren ließ.
Menschen. Dutzende von ihnen, vielleicht hunderte. Sie gingen langsam in einer endlosen Reihe einher. Ihr Haar und ihre Kleidung waren vom Regen durchtränkt. Viele von ihnen trugen Kinder, die weinten oder schliefen oder leise wimmerten. Andere saßen auf Pferde- oder Ochsenwagen, und alle hatten Decken, Kochtöpfe, Werkzeug und andere Haushaltsgegenstände dabei, eilig gepackt und ungeschützt vor den Elementen.
»Was in Aricks Namen ...?«, flüsterte Jaryd und lenkte sein Pferd zu Trahn.
Cailin und die anderen folgten ihm.
Gleichzeitig entdeckten die Leute an der Spitze der Reihe die Gruppe und eilten vorwärts.
»Magier!«, riefen sie. »Arick sei gelobt!« Sie drängten sich um die Magier und redeten alle auf einmal. Cailin hörte die Worte »Geist« und »Feuer« und sie erriet, dass diese Menschen aus ihrem Dorf geflohen waren, aber darüber hinaus konnte sie nicht begreifen, was sie sagten.
»Bitte!«, rief Jaryd schließlich, hob seinen Stab über den Kopf und ließ seinen saphirblauen Ceryll leuchten. Die Menge wurde leiser, obwohl es immer noch Gemurmel von weiter hinten in der Reihe gab, die sich so weit erstreckte, wie Cailin sehen konnte.
Jaryds Adler war zusammen mit Rithel über ihren Köpfen gekreist, und nun rief der Adlerweise sie auf seinen Arm herab und zuckte leicht zusammen, als sie ihre Krallen in sein Fleisch schlug.
»Ich bin der Adlerweise Jaryd vom Orden«, sagte Jaryd so laut er konnte. »Meine Begleiter sind Adlermeisterin Cailin und der Erste Meister Erland von der Liga. Kann einer von euch uns sagen, was geschehen ist?« Beim Erscheinen seines Vogels waren die Leute erneut unruhig geworden, aber sie verstummten rasch wieder, und einen Augenblick antwortete niemand. Dann trat ein älterer Mann vor. Er hatte stahlgraues Haar und dunkle Augen und hässliche frische Brandwunden an Armen und Stirn.
»Wenn du ein Adlerweiser bist, dann weißt du bereits, dass wir uns im Krieg befinden.«
»Ja«, antwortete Jaryd zögernd. »Aber unser Feind ist in Amarid.«
»Euer Feind ist auf Phelans Dorn«, sagte der Mann. »Und er ist kein anderer als der Wolfsmeister selbst.«
»Was?« Jaryd schien allein vor dem Gedanken bereits zurückzuweichen. »Phelan hat euch das angetan?«
»Ja. Er hat unsere Dörfer zerstört, unsere Häuser niedergebrannt, unsere Familien und Freunde getötet.«
»Das ist unmöglich!«
»Das hätte ich auch gedacht«, warf eine Frau ein, trat vor und stellte sich neben den Mann. Cailin hatte den Eindruck, dass die beiden zusammengehörten. »Wir haben unser ganzes Leben auf dem Dorn verbracht. Wir sind dem Wolfsmeister oft begegnet, und er hat nie zuvor so etwas getan. Aber vor zwei Nächten kam er in unser Dorf und hat weißes Feuer in unser Haus und die Häuser unserer Nachbarn
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