Die Chronolithen
Hotels richteten die Sanitäter ein Notlazarett ein, dichteten zerbrochene Scheiben mit Heizdecken ab und betrieben Heizöfen mit Hilfe des hoteleigenen Stromgenerators. Einer der Sanitäter legte Sue einen Druckverband an und dirigierte eintreffende Hilfe zu den Schwerverletzten, von denen die Schlimmsten noch auf der obersten Etage lagen. IDF und Zivilpolizei bildeten einen Kordon um das Gebäude, während im ganzen Umkreis die Sirenen heulten.
»Sie ist tot«, sagte Sue tonlos.
Cassie natürlich.
»Sie ist tot… Scotty, du hast sie gesehen. Sie war zwanzig. MIT-Diplomandin. Ein süßes, hübsches Ding. Sie hat sich bei mir bedankt und dann wurde sie umgebracht. Was hat das zu bedeuten? Hat das was zu bedeuten!«
Draußen fiel Eis von Gesimsen und Dachtraufen des Hotels und zerschellte auf dem Gehsteig. Mondschein durchdrang die glasig weißen Trümmer und umspielte die sich abzeichnenden Konturen des Kuin von Jerusalem.
Der Kuin von Jerusalem: eine vierkantige Säule, die emporragt, um einen Thron zu bilden, auf dem die Figur Kuins sitzt.
Kuin starrt gelassen am baufälligen Felsendom vorbei und mustert die Judäische Wüste. Er trägt Bauernhose und Hemd. Auf seinem Kopf sitzt ein Reif aus Halbmonden und Lorbeerblättern, eine bescheidene Krone vielleicht. Das Gesicht wirkt formell und edel, die Züge unspezifisch.
Der gewaltige Fuß des Monuments steht tief in den Ruinen des Zion-Platzes. Der Scheitel erreicht eine Höhe von eintausendvierhundert Fuß.
ZEHN
Erst jetzt kommt mir der Gedanke – falls Sie einem alten Mann verzeihen können, dass er den Text seiner Memoiren noch einmal Revue passieren lässt –, wie verstörend die Ankunft der Chronolithen auf die Generation gewirkt haben muss, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion volljährig wurde… die Generation meines Vaters, dem allerdings das Schlimmste erspart blieb.
Diese Generation hatte die Diktaturen der Dritten Welt eher mit Ungeduld als mit Empörung betrachtet, für sie waren die pompösen Paläste und Monumente die Ausschweifungen einer vergangenen Epoche, Spukschlösser, die in der steifen Brise von Nikkei und Nasdaq wankten. [xxiii]
Der Aufstieg eines Kuin traf sie völlig unvorbereitet.
Sie nahmen die Bedrohung ernst, waren aber taub für seine Anziehungskraft. Dass sich eine Million unterernährte Asiaten für ihn begeisterten, konnten sie sich vorstellen. Das war zumindest entfernt plausibel. Doch als ihnen die eigenen Kinder und Kindeskinder mit Verachtung begegneten, verflog ihre Zuversicht.
Sie suchten mehrheitlich ihre Zuflucht in der Rüstung. Kuins Monumente mochten ans Wunderbare grenzen, doch sie prophezeiten schließlich die militärischen Eroberungen, in denen sie ihren Ursprung hatten, und eine gut gerüstete Nation konnte nicht erobert werden. So oder ähnlich wurde argumentiert. Der Jerusalem-Kuin rief eine zweite Woge nationaler Anstrengung hervor: Man verdoppelte die Investitionen in Forschung, in ein Netz von Spürsatelliten, eine neue Generation von Raketenabwehrdrohnen, intelligente Minen und Kampf- sowie Versorgungsroboter. 2029 wurde die Wehrpflicht wiedereingeführt und das stehende Heer wuchs um eine halbe Million Rekruten. (Was die allgemeine Rezession im Gefolge der Aquifer-Krise, des ramponierten Zustands der asiatischen Wirtschaft und der beginnenden jahrelangen Atchafalaya-Becken-Katastrophe zu verschleiern half.)
Wir (ich sage das als Amerikaner) hätten Kuin schon als Säugling bombardiert, hätte uns jemand verraten können, wo er sich befand. Doch in Südchina und im größten Teil von Südostasien herrschte zügellose Barbarei, Warlords in gepanzerten Geländefahrzeugen tyrannisierten hungernde Bauern. Jeder einzelne dieser engstirnigen Tyrannen hätte Kuin sein können. Die meisten behaupteten das auch. Dabei stand nicht einmal fest, dass Kuin ein Chinese war. Er hätte überall sein können.
Inzwischen scheint klar (im Gegensatz zu damals), dass Kuin gerade deswegen so gefährlich war, weil er sich nicht erklärt hatte. Er besaß keine andere Bühne als seine Eroberungen, keine andere Ideologie als den Endsieg. Indem er nichts versprach, versprach er alles. Die Enteigneten, die Entrechteten und die bloß Unglücklichen, sie alle neigten dazu, sich mit Kuin zu identifizieren. Mit Kuin, der die Berge einebnen und die Täler auffüllen würde. Kuin, der ihnen Gehör verschaffen würde, weil es sonst niemand tat.
Für die Generation nach mir repräsentierte Kuin
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