Die Chronolithen
dass ich jetzt ginge. In die Mittagspause natürlich, doch sie musste es mir angehört haben. »Richtig lange? Hast du’s denn weit, Scotty?«
»Nicht weit.«
»Du weißt, wir sind noch nicht fertig.«
Sie hätte den Code meinen können, den wir ausgebrütet hatten, aber ich war mir nicht sicher.
Ihre Beinwunde war schon seit Jahren verheilt, doch das Jerusalem-Erlebnis hatte noch andere Narben hinterlassen. Jerusalem, gestand sie mir eines Tages, hatte ihr gezeigt, wie gefährlich ihre Arbeit war – dadurch, dass sie den Posten so nahe ans Zentrum der Tau-Turbulenz gelegt hatte, hatte sie nicht nur sich, sondern auch alle anderen in ihrer Umgebung gefährdet.
»Ich glaube, es ist unausweichlich«, sagte sie traurig, »das ist das Schlimmste daran. Du musst nur lange genug auf dem Gleis stehen, früher oder später kommt ein Zug.«
Ich erklärte ihr, das Debugging noch heute abzuschließen. Sie funkelte mich lange und skeptisch an. »Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?«
»Im Moment nicht.«
»Wir reden noch mal«, sagte sie.
Wie die meisten ihrer Prophezeiungen sollte sich auch diese bewahrheiten.
»Wo gehen Sie essen?«, fragte Morris. »Was dagegen, wenn ich mitkomme?« Ich lehnte ab: Ich hätte ein paar Dinge zu erledigen und käme unterwegs wahrscheinlich nur zu einem Sandwich. Wenn er Verdacht schöpfte, so ließ er sich nichts anmerken.
Ich löste mein Konto bei der Zurich-American auf, transferierte das meiste Geld auf eine Transit-Card und ließ mir den Rest in altmodischen Banknoten auszahlen. Ich fuhr ein bisschen länger herum, um sicherzugehen, dass Morris mir nicht folgte, so abwegig das auch war. Eher hatte er mein GPS angezapft. Also gab ich den Chrysler bei einem Vertragshändler in der Innenstadt in Zahlung, sagte der Verkäuferin, draußen stünde nichts, was mir zusagte und ob es ihr etwas ausmache, wenn ich mich unter den anderen Marken umsähe. Nein, meinte sie, und sie würde mich gerne im Hinterzimmer durch den virtuellen Bestand führen. Ich tippte auf einen stupsnasigen VW-Edison in Rauchblau, nach meinem Dafürhalten das nichtssagendste Auto, das je vom Band lief; ließ meinen Chrysler auf dem Parkplatz stehen und akzeptierte eine Probefahrt durch die halbe Stadt. Der reale VW sah etwas mitgenommener aus als der virtuelle, aber das Triebwerk war, soweit ich das beurteilen konnte, robust und einwandfrei.
Der ganze Spionageplunder hinterließ natürlich eine elektronische Spur so breit wie der Missouri. Morris Torrance konnte zweifellos eins und eins zusammenzählen und mich abfangen, aber er war nicht schnell genug, um mich noch in Baltimore zu erwischen. Bei Einbruch der Dunkelheit war ich zweihundert Meilen weiter westlich, fuhr mit offenen Fenstern in einen warmen Juniabend hinein und warf Antacidtabletten ein, um meinen Magen zu beruhigen.
Wo der Highway den Ohio überquerte, gab es ein großes Auffanglager, schätzungsweise tausend fadenscheinige Zelte, die in der Frühlingsbrise schlackerten, Dutzende von Fässern, aus denen unstete Flammen schlugen. Die meisten Menschen hier waren wohl Flüchtlinge aus dem Tiefland von Louisiana, Arbeitslose aus den Raffinerien und petrochemischen Werken, Farmer aus den Überschwemmungsgebieten. Der durstige Ton des Atchafalaya-Beckens hatte trotz massiver Anstrengungen der US-Pioniertruppe bereits begonnen, den Mississippi aus seinen versandeten Deltas zu ziehen. Mehr als eine Million Familien waren von den Überschwemmungen dieses Frühlings vertrieben worden, ganz zu schweigen von dem Chaos, das durch zerstörte Brücken und Schleusen und unter Schlamm erstickten Straßen verursacht wurde.
Menschen säumten die Pannenspur und bettelten um Mitfahrgelegenheit in beide Richtungen. Trampen war hier schon seit fünfzig Jahren verboten und Mitfahrgelegenheiten waren eine Seltenheit. Doch diese Menschen (fast nur Männer) machten sich darüber keine Gedanken mehr. Sie standen da, steif wie Vogelscheuchen, und blinzelten ins Scheinwerferlicht.
Hoffentlich hatte Kait einen sicheren Platz zum Schlafen gefunden.
Als ich die Außenbezirke von Minneapolis erreichte, stieg ich in einem Motel ab. Der Empfangschef, so alt wie eine Schildkröte nur werden konnte, machte große Augen, als ich Bares aus der Brieftasche nahm. »Damit muss ich ja zur Bank«, sagte er missmutig. Also legte ich fünfzig Dollar drauf, und er war so nett, meine Identität nicht abzugleichen. Das Zimmer, das er mir gab, war eine Kammer mit Bett und
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