Die Clans von Stratos
über die Reling. Im Handumdrehen änderte Maia die Stoßrichtung und ging auf die neue Piratin los, die jetzt Anstalten machte, ihre Waffe zu heben.
Doch in diesem Moment erstarrte sie. Halb blind vom Schweiß, wie durch einen rotgeränderten Tunnel aus Angst und Wut starrte sie das Gesicht an – es war ein Spiegelbild ihres eigenen.
»Le… Le…«, stammelte sie.
Auch die Augen der jungen Piratin leuchteten auf. »Da soll mich doch…«, sagte sie mit einem vertrauten, ironischen Lächeln. »Wenn das nicht meine Zwillingsschwester ist!«
Maia war unfähig, sich zu rühren, und Rennas Schreie drangen nur noch wie durch einen dichten Nebel zu ihr herüber. Leies Gegenwart verdrängte alles andere und lähmte ihr Gehirn. »Duck dich lieber, Süße«, sagte ihre Schwester da plötzlich.
Langsam, noch immer wie gelähmt, drehte Maia sich um.
Ganz von fern hörte sie, wie der Tumult aufbrandete und hölzerne Waffen auf einen menschlichen Schädel einschlugen. Solche Laute erkannte sie inzwischen, und das arme Opfer tat ihr leid.
Dann gab es eine Bewegung, die sie jedoch nur verschwommen wahrnahm, weit entfernt, als blicke sie durch ein umgedrehtes Teleskop. Erstaunt sah sie das Deck auf sich zukommen und fragte sich, warum ihre Muskeln nicht reagierten, warum ihr plötzlich die Sinne schwanden. Sie versuchte etwas zu sagen, aber es kam nur ein leises Gurgeln aus ihrer Kehle.
Schade, dachte sie, kurz bevor sie endgültig das Bewußtsein verlor. Ich wollte Leie doch noch fragen… Wir haben uns so viel…zu erzählen…
Logbuch des Peripatetikers:
Mission Stratos:
Ankunft plus 50.304 Megasekunden
Die Verbindung zwischen Männern und Frauen ist von Mythen umgeben. Noch zahllose Generationen nachdem wir angeblich die bewußte Kontrolle über unsere Instinkte erlangt haben, halten die meisten Hominiden noch immer an der Vorstellung von romantischer Liebe und natürlicher Empfängnis fest – bei der eine Frau mit einem Mann zusammen ist. Selbst dort, wo die Gesellschaft einen experimentellen, einen alternativen Lebensstil unterstützt, bleibt die Annahme erhalten, daß ein Elternpaar – eine Frau und ein Mann – das Kernstück der Kontinuität darstellt.
Auf Stratos rühmen nur wenige Lieder und Geschichten das, was anderswo zur Besessenheit gerät. Männer sind notwendig, manchmal mag man sie sogar, aber sie sind Randexistenzen, ein bißchen drollig. Ein lebender Anachronismus.
Leidenschaft hat auf Stratos nur eine kurze Saison. In den Zwischenzeiten scheint sie niemand zu vermissen.
Dennoch kommt es zu Partnerschaften, oft durch Geschäftsbeziehungen oder kulturelle Allianzen. Das führende Symphonieorchester besteht seit langem hauptsächlich aus Musikern vier außergewöhnlich begabter Gruppen – die O’Niels stellen die Streicher, die Vondas spielen die Holzblasinstrumente, die Posnovskys die Blechbläser und die Tiamats die Schlaginstrumente. (Ich hoffe, daß ich im Herbst noch hier bin, denn dann beginnt die Saison.)
Gelegentlich gehen die Clans noch engere Verbindungen miteinander ein. Beziehungen, die man romantisch nennen könnte, fast wie eine Ehe. Gelegentlich haben sie sogar gemeinsame Nachfahren.
In der Praxis ist das ganz einfach. Zuerst arrangieren Clan A und Clan B, einen Wurf Sommerlinge zu bekommen. Wenn Clan A einen Jungen produziert, tut er das Übliche, zieht ihn gewissenhaft groß und gibt ihn dann bei einer der Seefahrergilden in Pflege. Nur verspricht er in diesem Fall, in einem Sommer, wenn er älter ist, zurückzukommen.
Unterdessen hat Clan B Sommertöchter bekommen. Eine davon wird ausgewählt: Sie soll die beste Erziehung bekommen, die ein Variantenmädchen haben kann. Der Clan vermittelt ihr eine Nische, sogar eine Winterschwangerschaft, alles, damit sie bereit ist, ihre Dankesschuld zu begleichen, wenn der Sohn von Clan A von der Seereise nach Hause kommt. Jedes Kind, das aus dieser Verbindung entsteht, ist theoretisch ein mischerbiger Enkel beider Clans.
Dieser Vorgang liefert Stoff für interessante Vergleiche. Wenn man Clan und Individuum gleichsetzt, wird aus dem Mädchen das Äquivalent einer Eizelle und aus dem Jungen ein Sperma. Die beiden Clans spielen die Rolle eines Liebespaars.
Manchmal überwältigt mich das alles geradezu.
Wieviel halte ich noch aus? Ich muß mich auf meine Arbeit konzentrieren. Doch diese Arbeit besteht darin, das Funktionieren menschlicher Subspezies zu erforschen. Ich entkomme dem Thema Sex nicht, es verfolgt mich von
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