Die Clans von Stratos
sie merken, was wir getan haben.
Noch etwas verstärkte ihre Unruhe.
Jetzt, da alle aufgescheucht sind, entdecken sie Brod bestimmt, wenn er versucht herunterzukommen. Sie werden ihn in die Tiefe fallen lassen wie einen hilflosen Flügelhasen.
Von neuem versuchte sich Maia zu konzentrieren und den Raum mit unvoreingenommenen Augen zu betrachten, zu sehen, was Renna gesehen haben mußte. Ein paar Minuten verbrachte sie damit, in den Decken und Strohballen herumzustochern, die ihm wohl als Bett gedient hatten und die schon andere vor ihr auseinandergerissen hatten, um nach Spuren zu suchen. Doch sie fand nichts Interessantes. Sie ließ den Blick noch einmal über die eingravierten Worte wandern, die über die Länge und Breite der Seiten- und Rückwände liefen. Einige davon kannte sie gut, da sie sie während der langen, öden Gottesdienste in der Lamatia-Kapelle auswendig gelernt hatte, wenn sie gerade nicht in die Lobgesänge auf die Stratos-Mutter einstimmen mußte.
… finde, was verborgen ist…
unter fernen, fremden Sternen
So hieß es in normalen Buchstaben.
Maia verzog das Gesicht. Das Bild war passend, denn vielleicht würde sie die Sterne nie wiedersehen. Welche Tageszeit jetzt wohl ist? überlegte sie, während sie sich umdrehte und ihren Blick weiter über die Wände schweifen ließ. Auf einmal hielt sie inne und starrte auf einen Punkt, der ihr seltsam vorkam. Dann hastete sie trotz ihrer schmerzenden Wunden die Treppe hinunter und drängte sich an der erhöhten Plattform in der Mitte vorbei. Wo die Zeilen mit den eingravierten Worten sich der leeren vorderen Wand näherten, hatte sie etwas entdeckt, das aussah wie eine regelmäßige Anordnung brauner Flecken. Es waren keine Buchstaben. Für Maias Auge ergaben sie etwas viel Interessanteres.
»Wie sieht das hier für dich aus?« fragte sie den Kabinenjungen und deutete auf die Flecken direkt unter den Geheimzeichen des liturgischen Alphabets. Der Junge kniff die Augen zusammen und Maia wünschte sich sehnlichst, Brod wäre statt seiner hier.
»Keine Ahnung, Ma’am. Sieht aus, als hätte einer sein Essen an die Wand geklatscht. Das war aber auch ein Fraß, den sie uns serviert haben.«
»Sieh genauer hin«, drängte Maia. »Nicht geklatscht, getupft! Siehst du? Es sind sorgfältig gemalte Punkte – eine Gruppe unter einem Buchstabensymbol. Und hier noch eine Gruppe.« Maia zählte. Insgesamt waren es achtzehn Tupfergruppen, jede von ihnen anders. »Siehst du? Kein Buchstabe wird wiederholt. Jedes Symbol des Alphabets hat seine eigene Punktanordnung! Ist das nicht hochinteressant?«
»Äh… wenn du meinst.«
Maia schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, wie lange er gebraucht hat, um das herauszufinden.«
Sie versuchte sich in Rennas Lage hineinzuversetzen. Zum zweiten Mal gefangen in einer fremden Welt, halb zu Tode gelangweilt, am Rand der Verzweiflung, erschöpft – er hatte die Rätselsprüche wahrscheinlich angestarrt, bis sie zu Flecken vor seinen Augen verschwammen. Sicher war ihm erst dann eingefallen, ein Spiel daraus zu machen und die eingravierten Buchstaben als Startpunkte zu benutzen. Aber zuerst mußte er sie von geschriebenen Buchstaben verwandeln in…
Aus dem Korridor drangen Rufe zu ihnen. Maia drehte sich um, und gleich darauf erschien ein Mann hinten auf der Arena und winkte heftig.
»Drei von den Weibern sind gerade um die Ecke gekommen und uns direkt in die Arme gelaufen! Leider haben sie noch geschrien, ehe wir ihnen das Maul stopfen konnten. Drüben bei der Treppe braut sich was zusammen. Der Käpt’n meint, wir kriegen bald Ärger.«
Maia nahm die Nachricht mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder den Zeichen an der Wand zu. Retina muß sie als Schlüssel benutzt haben, während er hier gearbeitet hat.
Aber woran hatte er gearbeitet? Er hatte noch sein elektronisches Spielbrett bei sich gehabt – die Freibeuter sahen so etwas als gänzlich harmlos an –, also konnte er mit zahllosen Kombinationen von Punkteanordnungen und Regeln experimentieren. Gut, ich stelle mir also vor, er spielt mit den Symbolen herum, die er in dem Raum gesehen hat, in dem die Männer zuerst untergebracht waren. Nehmen wir an, er hat aus den Wandsprüchen irgend etwas erfahren. Er hat erfahren, daß es irgendwo in diesem Reservat einen günstigeren Platz für ihn gibt… und er hat es geschafft, sich dort hinbringen zu lassen.
Okay. Und dann?
Blieb immer noch die Frage, wie er verschwunden
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