Die Clans von Stratos
beidem?
Rüsten wir sie so aus, daß sie ihren eigenen Weg wählen können zwischen der Berechenbarkeit und dem Reiz des Neuen. Bereiten wir sie darauf vor, daß sie mit der Gleichheit genausogut zurechtkommen wie mit dem Unerwarteten.
Kapitel 8
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Calma hatte recht gehabt. Man konnte sich ganz auf den Geruchssinn verlassen, er führte einen unweigerlich zur Lerner-Feste.
Das war ein Glück. Zwar konnte Maia auch durch eine langsam dichter werdende Wolkendecke anhand der Sterne erkennen, wo Norden war, aber ohne Landkarte oder Ortskenntnisse nutzen Kompaßrichtungen nicht sehr viel. Nur Iris, der kleinste Mond, zeigte Maia den Weg, während sie dem holprigen Pfad über die Wellen der Prärie folgte, bis schließlich eine Abzweigung sie abrupt in ein Labyrinth von kleinen ausgewaschenen Schluchten hinabführte. Ein durchdringender metallischer Geruch kam aus dieser Richtung, also entschied sich Maia mit klopfendem Herzen, ihn einzuschlagen.
Beim Abstieg in den Canyon mußte Maia anfangs mit den Händen ihren Weg ertasten; ihre Finger strichen über eine dicke Humusschicht, die aber bald harten Lehmplatten Platz machte. Maia merkte, daß sie über eine Reihe tiefer Einschnitte im Boden hinabstieg, als wäre Stratos’ Haut hier von gigantischen Krallen aufgerissen worden.
Endlich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und ihre Pupillen konnten als schmale Schlitze ein Maximum an Licht aufnehmen. Lehm und Sandstein wechselten sich ab, schimmerten und glitzerten leicht oder verschluckten einfach das wenige Mondlicht, das so weit in den Canyon vordrang. Maia vermutete, daß es davon abhing, welche Kombination winziger Seetierchen an der jeweiligen Stelle auf den Meeresgrund gefallen war, als sich die Formationen vor Urzeiten gebildet hatten. Schon bald wichen auch die Ablagerungen dem nackten Felsgestein, entstellt und verzerrt von den kontinentalen Verschiebungen, die stattgefunden hatten, lange bevor der Urmensch auf der weit entfernten Erde umhergewandert war. Das Wechselspiel von hellem und dunklem Gestein erinnerte sie an die hoch aufragenden Felspfeiler, die sie vom Zug aus gesehen hatte – Überbleibsel ehemals stolzer Berge, an denen Regengüsse, Flüsse und der Zahn der Zeit ihre Spuren hinterlassen hatten.
Maia war sich ziemlich sicher, daß Zeit nicht zu den Dingen gehörte, von denen ihr selbst allzuviel zur Verfügung stand. Plante Tizbe, bis zum Morgen zu warten, um sie dann in eine Falle zu locken? Oder würde sie noch in der Nacht in Maias Zimmer kommen, begleitet von einem Dutzend muskulöser Jopland-Frauen? Nachdem sie das Gespräch im Farmhof belauscht hatte, hatte sie beschlossen, lieber nicht zu bleiben, um das herauszufinden.
Die Flucht aus der Jopland-Feste war ganz einfach gewesen. Mit leisen Schritten, um die Hunde nicht auf sich aufmerksam zu machen, war sie den Bach entlanggewandert, der neben der Obstplantage floß, hatte dann die Schuhe an den Schnürsenkeln zusammengebunden um den Hals gelegt und war ungefähr einen Kilometer durchs eiskalte Wasser gewatet, bis das Anwesen außer Sicht war. Danach mußte sie ein paar Minuten pausieren, um ein bißchen Gefühl in ihre halb erfrorenen Füße zu massieren, ehe sie die Schuhe wieder anzog. Fröstelnd hatte sie sich dann einen Weg durch ein Weizenfeld nach dem anderen gebahnt, bis sie endlich auf die Straße kam.
So weit, so gut. Viel schwerer war es, ihre mißliche Lage richtig einzuschätzen und entsprechende Entschlüsse zu fassen. Nachdem sie wochenlang deprimiert und wie in Trance gelebt hatte, war die Wirkung dieses abrupten Adrenalinstoßes gleichzeitig schwindelerregend und belebend. Sie konnte nicht anders, als ihre Situation mit den Abenteuerfilmen zu vergleichen, die sich die Sommerkinder in Lamatia während der Hochsaison ansehen durften, wenn die Mütter keine Zeit hatten, sich mit ihnen zu beschäftigen. Oder die verbotenen Bücher, die Leie sich von jungen Vars aus toleranteren Clans ausgeliehen hatte. In solchen Geschichten gab es gewöhnlich eine wunderschöne, wintergeborene Heldin aus einem emporstrebenden Clan, die sich gegen die gemeinen Intrigen einer dekadenten Familie zur Wehr setzen mußte, deren Macht und Reichtum statt durch ehrlichen Wettbewerb nur noch von subversiven Machenschaften aufrechterhalten wurde. Meistens gab es der Form halber einen Mann oder manchmal auch eine Schiffsladung anständiger Seeleute mit ehrlichen Augen, die ebenfalls von der hinterhältigen Familie betrogen werden
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