Die Company
erhalten hatte – war heimlich damit beschäftigt, eine Kartei über die Opfer Stalins zusammenzutragen. Vor Jahren hatte sie die Schwarzdruckausgabe eines Lyrikbändchens von Achmatowa in die Hände bekommen, und zwei Zeilen des Gedichts »Requiem« hatten sie ungeheuer bewegt:
Ich würde euch gern alle mit Namen nennen,
Doch sie haben die Listen verloren …
Asalia hatte Stalins Tod im Jahre 1953 gefeiert, indem sie begann, die verlorenen Listen zusammenzustellen, und die Katalogisierung von Stalins Opfern war zu ihrer geheimen Leidenschaft geworden. Auf den ersten beiden Karteikarten standen die Namen ihrer Eltern, die Ende der Vierzigerjahre von der Geheimpolizei verhaftet und (wie sie aus Unterlagen wusste, die sie im Archiv des Historischen Institutes ausgegraben hatte) im Schnellverfahren »als Volksfeinde« zum Tode verurteilt worden waren; man hatte sie in den Kellerverliesen des riesigen KGB-Hauptquartiers am Lubjanskaja-Platz hingerichtet. Ihre Leichname, wie die von Dutzenden anderen, die am selben Tag das gleiche Schicksal ereilte, waren in einem Krematorium der Stadt eingeäschert worden (auf dem Hof musste ein kleiner Leichenberg gelegen haben, und Augenzeugen berichteten, Hunde hätten auf einem Gelände in der Nähe an menschlichen Armen oder Beinen genagt), und die Asche hatte man in einen Graben am Rande Moskaus geschüttet. Die überwiegende Mehrheit der Namen hatte Asalia aus Akten, die in verstaubten Kisten im Archiv lagen. Andere Informationen verdankte sie persönlichen Kontakten zu Schriftstellern und Künstlern und Kollegen, von denen fast jeder einen Elternteil oder einen Verwandten oder Freund durch Stalins blutige Säuberungen verloren hatte oder jemanden kannte, der den Tod eines ermordeten Menschen betrauerte. Als Chruschtschow seine geheime Rede hielt, umfasste Asalias Kartei bereits 12 500 Karten, auf denen sie den Namen, das Geburtsdatum sowie das Datum der Verhaftung und Hinrichtung oder des spurlosen Verschwindens von jedem der bis dahin namenlosen Opfer der stalinschen Tyrannei aufgelistet hatte.
Anders als Achmatowa würde Asalia sie mit Namen nennen können.
Auf Anraten ihres Freundes von der Prawda verabredete Asalia sich mit einem entfernten Cousin, einem Redakteur bei der Wochenzeitschrift Ogonjok, die für ihre relativ liberalen Ansichten bekannt war. Asalia deutete ihm gegenüber an, sie sei im Historischen Institut per Zufall auf längst vergessene Akten gestoßen. Angesichts der Anprangerung von Stalins Verbrechen durch Chruschtschow sei sie bereit, einen Artikel zu schreiben, in dem sie die Namen von einigen Opfern des Stalinismus nennen und auch Einzelheiten über die Umstände ihres Todes schildern wolle.
Wie andere Moskauer Intellektuelle waren dem Redakteur Gerüchte über Chruschtschows Angriff auf Stalin zu Ohren gekommen. Allerdings scheute er sich, Stalins Verbrechen publik zu machen; Redakteure, die sich zu weit vorwagten, waren schon öfter tief gestürzt. Ohne Asalias Namen zu nennen, wolle er bei den Chefredakteuren der Zeitschrift vorhorchen, sagte er. Selbst wenn sie ihrem Angebot zustimmten, sei es unwahrscheinlich, dass ihr Artikel abgedruckt würde, ohne die Sache zuvor mit hochrangigen Parteifunktionären abzuklären.
In derselben Nacht wurde Asalia von polternden Schritten im Treppenhaus aus dem Schlaf gerissen. Sie wusste sogleich, was das zu bedeuten hatte; selbst in Häusern mit funktionierenden Aufzügen benutzten die KGB-Schergen stets die Treppe, damit ihre lärmende Ankunft für alle in Hörweite als Warnung diente. Eine Faust hämmerte an ihre Tür. Asalia musste sich rasch etwas anziehen und wurde in einen stickigen Raum in der Lubjanka gebracht, wo sie bis zum Mittag des folgenden Tages zu ihrer Arbeit im Institut vernommen wurde. Ob es stimme, wollte man von ihr wissen, dass sie Daten über Volksfeinde sammle, die während der Dreißiger- und Vierzigerjahre in Gefangenenlagern gestorben waren? Ob es ebenfalls stimme, dass sie sich nach der Möglichkeit erkundigt habe, einen Artikel zu dem Thema zu veröffentlichen? Einer der Männer, die sie verhörten, fragte nach einem kurzen Blick in eine Akte ganz nebenbei, ob sie dieselbe Isanowa, Asalia sei, eine Frau hebräischer Abstammung, die im Jahre 1950 vom KGB nach ihrer Beziehung zu einem gewissen Jewgeni Alexandrowitsch Tsipin befragt worden war? Trotz ihrer großen Angst war Asalia noch klar genug bei Verstand, um möglichst vage zu antworten. Ja, sie habe einmal einen Tsipin
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