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Die Company

Die Company

Titel: Die Company Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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verspielt Stariks Oberschenkel unter seinem langen, groben Bauernkittel. Das vierte Mädchen lag ausgestreckt auf dem Sofa, ein Bein über der Rückenlehne; das Kleidchen war hochgerutscht, so dass der verwaschene Baumwollschlüpfer zum Vorschein kam.
    »Pssst, Mädchen«, stöhnte Starik. »Wie soll ich euch vorlesen, wenn ihr die ganze Zeit herumzappelt.«
    »Pssst«, ermahnte das Mädchen auf der Couch die anderen.
    »Pssst«, pflichtete ein anderes Mädchen mit blonden Locken bei.
    »Wir müssen still sein«, sagte ein Mädchen mit Porzellanhaut und Großmutterbrille, »sonst wird Onkel böse.«
    »Also«, sagte Starik. Er schlug die Seite auf, wo er tags zuvor aufgehört hatte, und begann vorzulesen.
     
    » Von allen Erlebnissen auf ihrer Reise hinter den Spiegeln ist Alice dieses am deutlichsten in Erinnerung geblieben. Noch Jahre später hat ihr dieses Bild vor Augen gestanden, als habe sie es erst gestern gesehen – die sanften blauen Augen und das gütige Lächeln des Ritters – «
     
    »Den Ritter fand ich toll«, seufzte das Mädchen mit den blonden Locken.
    »Unterbrich Onkel doch nicht«, sagte das Mädchen auf der Couch tadelnd.
     
    » – die untergehende Sonne, vor der sein Haar und seine Rüstung so hell aufleuchteten, dass sie davon ganz geblendet war – das Pferd, das ruhig mit seinen hängenden Zügeln umherging und ihr zu Füßen graste – die dunklen Waldesschatten im Hintergrund … «
     
    »Ich habe Angst vor dunklen Schatten«, sagte das Mädchen mit der Porzellanhaut und erschauerte.
    »Und ich habe Angst vor dem Wald«, gestand das blonde Mädchen.
    »Ich hab Angst vor Krieg«, warf das Mädchen auf der Couch ein.
    » Djadja Stalin glaubt, es gibt Krieg«, sagte das Mädchen, das bisher geschwiegen hatte. »Das hab ich im Kino in der Wochenschau gehört.«
    »Onkel, glaubst du, es gibt Krieg?«, fragte der blonde Lockenkopf.
    »Nicht unbedingt«, erwiderte Starik. »Vor einigen Monaten habe ich die These eines schlauen Wirtschaftswissenschaftlers gelesen. Zuerst kam sie mir ungeheuerlich vor, doch dann wurde mir klar, was für Möglichkeiten –«
    »Was ist eine These?«
    »Und was ist ein Wirtschaftswissenschaftler?«
    »Ihr fragt zu viel, Mädchen.«
    »Wie sollen wir lernen, wenn wir nicht fragen?«
    »Ihr könnt lernen, indem ihr mucksmäuschenstill seid und mir aufmerksam zuhört.« Starik dachte jetzt laut. »Die These, die ich gelesen habe, könnte die Antwort …«
    »Eine These ist eine Waffe«, rief das Mädchen mit der Porzellanhaut. »Wie ein Panzer, nur größer. Stimmt’s?«
    Bevor er etwas erwidern konnte, fragte das Mädchen auf der Couch: »Und was wird aus unseren Feinden, Onkel?«
    Starik fuhr ihr mit den Fingern durch die blonden Locken. »Ganz einfach, Mädchen – es dauert vielleicht einige Zeit, aber wenn wir Geduld haben, besiegen wir sie, ohne auf sie zu schießen.«
     
     

II
    Das Ende der
Unschuld
    »Man hat ja hier eine schrecklich
    große Vorliebe fürs Köpfen;
    mich wundert bloß, dass überhaupt
    noch jemand am Leben ist! «
     
    LEWIS CARROLL, Alice im Wunderland
     
     
    Foto: Die Druckfahne einer Seite der Zeitschrift Life, die eigentlich im November 1956 veröffentlicht werden sollte, was jedoch von der CIA verhindert wurde, da einige ihrer Mitarbeiter darauf deutlich zu erkennen waren. Das mit starkem Teleobjektiv aufgenommene und dementsprechend grobkörnige Foto zeigt einige Menschen in schweren Wintermänteln – darunter auch Frank Wisner, Jack McAuliffe und CIA-Rechtsberaterin Mildred Owen-Brack. Sie stehen auf einer Anhöhe und beobachten, wie Flüchtlinge eine Landstraße entlangstapfen, manche tragen schwere Koffer, andere führen kleine Kinder an der Hand. Durch den morgendlichen Bodennebel hindurch scheint Jack jemanden erkannt zu haben, denn er hat grüßend eine Hand erhoben, und es sieht so aus, als würde schräg gegenüber ein großer Mann mit einem kleinen Mädchen auf den Schultern zurückwinken.

1 Moskau,
Samstag, 25. Februar 1956

    I
    n einem überheizten Büro der Lubjanka in Moskau lauschte eine Gruppe von hochrangigen Offizieren und Direktoratsleitern aufmerksam der rauen Bauernstimme des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei, Nikita Chruschtschow, die aus einem Armeeradio drang. Chruschtschow beendete gerade seine geheime Rede vor der Delegiertenversammlung des XX. Parteitages. Starik starrte durchs Fenster hinaus auf den eisbedeckten Platz vor der Lubjanka, zog nachdenklich an seiner bulgarischen Zigarette und

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