Die Containerfrau
starrt die Karte an, die Landschaft, dann wieder die Karte. Geht in die Kate, schaut nicht zur Pritsche hinüber, wo ein Bündel, das sie nichts angeht, mit einem Gewehr sitzt, das auf seine Brust zielt, sieht nicht dorthin. Sie breitet einfach nur die Karte auf dem Tisch aus. Und weiß es jetzt sicher. Ein Kreuz zeigt den Parkplatz, ein anderes die Kate, die Höhle, in der sie hier steht. Und diese beiden Kreuze liegen nicht weit auseinander. Trotzdem sind sie gelaufen und gelaufen. Sie ist durch Unterholz und Geröllhalden gestolpert, mit Spinnweben und wilden Tieren, und hat geglaubt, unterwegs zu sein in die Hölle. Und in Wirklichkeit liegt die Kate, wenn die Karte Recht hat, ganz dicht beim Parkplatz. Sie wird wütend. Geht zu der leblosen Gestalt, die an der Steinwand lehnt, und nennt ihn ein Arschloch. Er antwortet nicht. Rasch durchsucht sie seine Taschen, findet Autoschlüssel, findet ein Mobiltelefon, findet fremd aussehende Banknoten. Sie reißt alles an sich und rennt zur Tür. Bleibt stehen und horcht. Der Tag, nein, der Morgen, ist still. Kein Laut ist zu hören. Sogar die Vögel sind jetzt verstummt. Sie hört nur ein seltsames Gurgeln in ihrem Brustkasten. Mit der Karte in der Hand verlässt sie Kate, Klamm und Wildnis. Findet einen Weg und steht fünfzehn Minuten später auf dem Parkplatz. Der Weg war leicht zu finden, er war fast wie eine Gasse durch den Wald.
Sie hört Stimmen, Männerstimmen. Geht in die Hocke. Autotüren schlagen, Hunde bellen, frohes Lachen. Zwei Männer und zwei Hunde gehen vom Parkplatz in den Wald. Jeder hat ein Jagdgewehr über der Schulter. Die Hunde springen hin und her und wirken glücklich. Die Männer auch. Dann verschwinden sie. Die Hunde. Die Geräusche. Die Männer. Alles verschwindet im dichten Tannenwald.
Sie zieht die Autoschlüssel hervor, schließt die Tür auf. Steigt ein und versucht den Motor anzulassen. Braucht dazu mehrere Versuche. Andrej hatte ihr die Pedale erklärt, hatte ihr Fahren beigebracht. So einigermaßen. Aber dieses Auto ist so riesig. Die Pedale sind tief unten. Sie bückt sich, starrt sie an. Es gibt drei davon, sie probiert Gas, Bremse, Kupplung aus. Der Schalthebel ist seltsam, er weist mindestens zehn unterschiedliche Gänge auf. Die untere Reihe kann sie nicht erreichen, das Auto will in dem Gang bleiben, in dem es steht. Na gut, dann nimmt sie eben den. Sie krümmt die Zehen und denkt: Das werde ich schaffen! Der Benzintank ist zu drei Vierteln gefüllt, die Symbole sind leicht zu verstehen. Sie will diese Wildnis und diese ganz falsche Stadt verlassen und fahren und fahren, auf Seitenwegen fahren, auf denen keine Grenzwachen unterwegs sind, und sie will weg. Dorthin, wo ihr Arbeit versprochen worden ist. Nach Oslo. Wo Näherinnen gebraucht werden. Sie will verdammt noch mal nicht hier in Sibirien sitzen und in einer Kleinstadt sexgeile Motorradtypen bedienen. Er fehlt ihr, er war so lieb.
Vom Rücksitz her ist ein rostiges, fast unhörbares Lachen zu vernehmen. Sie dreht sich nicht um. Weiß nur, dass die Königin zwei Sorten Lachen hatte: ein akzeptierendes und ein ablehnendes. Sonst hat sie nie gelacht. Jetzt kann sie sich an diesem Lachen anklammern, kann damit weiter kommen. Aber als sie nun eine zerfetzte Visitenkarte aus den Stiefeln zieht, die MC-Andrej für sie gekauft hat, die Stiefel, die sie in der Kate nicht abgestreift hat, da grunzt auf dem Rücksitz jemand. Die Königin fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut. Ihre Schnurrhaare wittern Gefahr, sie riecht etwas, das sie nicht einordnen kann, ein Grund mehr, skeptisch zu sein und zu warnen. Und sich vor einer zerfetzten, zertrampelten Visitenkarte zu hüten, die in einem Schuh versteckt ist und auf der steht:
Anne-kin Halvorsen, Polizeikommissarin,
Wache Trondheim, Tel. 73 958 400,
Privat: Øvre Møllenberg 93 a,
Mobil: 92 60 51 175
Das riecht nicht gut. Riecht nach Hinterhalt. Die Polizistinnenkarte, gegeben in »bester Absicht«, ist nichts zum Schmusen. Hat kein Vertrauen verdient. Hat absolut kein Vertrauen verdient. Solche Visitenkarten sind sinnreiche, raffinierte Fallen, die ein weibliches Wesen dem anderen stellt. Mit den besten Absichten und »1 am your friend«. Sie fischt die zerfetzte Visitenkarte aus dem Stiefel und steckt sie in die Tasche. Hört, wie jemand auf dem Rücksitz flüstert und faucht, und verlässt einen Parkplatz, tief im Wald oberhalb der Stadt Trondheim, früh an einem schönen Septembermorgen. Tritt aufs Pedal und fährt und fährt.
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