Die Containerfrau
Waffelduft zu verbergen, der durch ein rotweiß kariertes Küchenhandtuch dringt. Drapiert über einem Brotkorb.
Anne-kin reißt ihre Tür sperrangelweit auf. Sieht, dass Frau Steens Hände ein wenig zittern.
»Haben sie, wir … hat die Polizei Sie arg belästigt?«, fragt sie, wohl wissend, dass ihre Nachbarin ihren Tag vor allem mit Gesprächen mit den Ermittlern verbracht hat. Die andre zuckt kurz mit den Schultern. »Das ist wohl ihre Aufgabe«, sagt sie. »Eigentlich ziemlich beruhigend, dass sie, dass ihr so gründlich arbeitet. Aber ich kann leider nur wenig oder gar nichts beisteuern. Ich gehe früh schlafen und mein Schlafzimmer liegt in der Gegenrichtung. Schüsse habe ich nicht gehört, ich habe nur tief im Schlaf registriert, dass unter meinen Fenstern viel Verkehr war.«
»Sie haben gestern hier geschellt, nicht wahr?«, fragt Annekin. Rakel O. Steen nickt.
»Ich wollte nur von der jungen Frau erzählen, die ich ins Treppenhaus gelassen habe, sie stand doch draußen und fror, die arme Kleine. Und sie hat mir Ihre Visitenkarte gezeigt und … Ja, sie konnte ja kein Norwegisch, und deshalb dachte ich, ich könnte sie ins Haus lassen.«
Anne-kin nickt.
»Aber sie wollte im Treppenhaus warten, sie wollte nichts essen und auch keinen Kaffee. Und als ich das nächste Mal aus der Wohnung kam, war sie gegangen.«
Aber nur bis zum obersten Treppenabsatz, denkt Anne-kin. Dort hatte der »Spatz« Zuflucht gesucht. Hatte zusammengekauert und mäuschenstill auf dem schmalen Gesims gesessen, an dem die Dachbodenverschläge liegen. Hat in den Schatten gesehen und genau im Blick gehabt, wer unten kam und ging.
»Ich hatte Ihre Tür gehört, habe Sie nach Hause kommen hören«, sagt Rakel O. Steen jetzt. »Und deshalb habe ich geklingelt, um von diesem armen Mädchen zu erzählen, das das Warten satt bekommen hatte. Sie haben ja so viele Bekannte und …« Der Rest bleibt in der Luft hängen. »Ich hätte ihr wenigstens eine Tasse Schokolade aufdrängen müssen«, murmelt Frau Steen. »Die arme Kleine, sie sah reichlich verhuscht aus.«
Dann schneidet Anne-kins Nachbarin plötzlich eine seltsame Grimasse.
»Anne-kin«, flüstert sie, greift sich mit damenhafter Geste an die Brust. »Anne-kin, war sie das, die … war sie das, die … die angeschossen worden ist … letzte Nacht … in den Morgennachrichten, warum hat niemand mir das gesagt? Dass die Schüsse hier … o wie entsetzlich, war sie das …«
Anne-kin Halvorsen verflucht die fehlende Informationsausgabe der Kollegen. Sie begreift nicht, warum ihre Nachbarin, die pensionierte Missionarin aus Afrika, nicht die Wahrheit erfahren hat. Um ein zartes Gemüt zu schonen? Frau Steen ist härter als die meisten »älteren Damen«, hat mehr gesehen als die meisten, mehr erlebt als die meisten. Warum zum Henker haben Sundt & Co ihr nicht die Wahrheit gesagt? Dass das kleine verhuschte Mädchen, das ins Treppenhaus geholt wurde und Kommissarin Halvorsens Visitenkarte mit der Faust umklammerte, jetzt im RiT auf der Intensivstation liegt, mit einem Kopfschuss, in stabilem Zustand. Genauer gesagt, bewusstlos.
»Setzen Sie sich«, sagt Anne-kin, zieht einen Stuhl vor, holt die Kaffeekanne, die noch immer mit heißem Kaffee für Kollegen gefüllt ist, die sich einfach nicht blicken lassen, holt zwei Becher, kleine Teller, Butter und Marmelade. Und unter dem rotweiß karierten Küchenhandtuch kommt ein Stapel frisch gebackener Waffeln zum Vorschein.
»Setzen Sie sich, Rakel«, wiederholt Anne-kin. Und Frau Rakel O. Steen setzt sich. Verteilt Waffeln und Becher. Sie essen schweigend frisch gebackene Waffelherzen mit Butter und Marmelade, trinken frisch aufgebrühten Kaffee und lassen alle Aktivitäten außerhalb von Fenstern und Türen zu einem bloßen Stimmgewirr in den Kulissen werden.
Als Anne-kin Halvorsen ihre Nachbarin zur Tür bringt, ins Badezimmer geht, sich die Zähne putzt, das Gesicht wäscht und ins Bett fällt, weiß sie nicht so recht, woraus dieser Abend bestanden hat. Abgesehen von Waffeln und Kaffee. Sie legt sich nackt ins Bett, weil auch diese Septembernacht mild und schwül ist. Öffnet ein Fenster und lässt sich von den Nachtgeräuschen des Viertels in den Schlaf singen. Ihr letzter Gedanke ist: Welche Art von Hilfe hat die Missionarin eigentlich angeboten, in halben Sätzen sozusagen? Es ging um ein Kontaktnetz. Und um christliche Werte? Anne-kin dreht sich auf die Seite und weiß, dass sie sich am nächsten Tag genauer erkundigen muss.
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