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Die Containerfrau

Die Containerfrau

Titel: Die Containerfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Smage
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rasch wachsenden Papierstapel.

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    Der Bericht der Pathologie endet mit der Todesursache »Schießunfall« und endet auch wieder nicht damit. Einerseits, andererseits. Der Verunglückte, also der »Jäger«, ist dadurch ums Leben gekommen, dass ein Fremdkörper, in diesem Fall eine Kugel aus seinem eigenen Gewehr, zwischen zwei Rippen in seinen Brustkarten eingedrungen ist und die Aorta, die Hauptschlagader zum Herzen, zerfetzt hat. Anne-kin Halvorsen ist in ihre Kopie dieses Berichts vertieft. Sie lässt ihren Blick über die in schwer zugänglicher Terminologie beschriebenen Blätter fliegen. Liest den Schluss. Der also einen Schießunfall nicht ausschließt, mehr aber nicht sagen kann.
    Der Bericht der Technik ist eine verständlichere Lektüre. Erhellender. Und trauriger. Die technischen Ermittler der Trondheimer Wache haben den Wald durchkämmt, haben zwei Tage in und vor der Kate in Kvarvet verbracht und alles untersucht, was sich untersuchen ließ. Gefunden haben sie nicht viel. Aber doch genug.
    Nicht in der Kate, dort waren so gut wie alle Fingerabdrücke weggewischt worden, nicht einmal die des »Jägers« waren zu finden. Aber draußen, zwischen zwei Steinen, dort hatten die Hunde geschnüffelt und markiert. Urin markiert. Und auf den Steinen fanden sie Fingerabdrücke. Jemand hatte sich dort zum Pinkeln hingehockt, hatte sich an den Steinen festgehalten wie am Handgriff in einer Toilette. Und Männer setzen sich beim Pissen nur selten. Sie hatten diese Abdrücke gepudert und abgelöst und sie mit den Fingerabdrücken der vermissten Patientin verglichen. Sie stimmten überein. Es waren die des »Spatz«.
    Anne-kin Halvorsen stöhnt. Stellt sich vor, wie Irina in die Hocke geht und den Dingen freien Lauf lässt. Sieht sie in Zeitlupe wieder in die Kate gehen, mit dem Gewehr auf den »Jäger« zielen und schießen. Oder sieht sie in die Kate gehen und mit dem »Jäger« in ein Handgemenge verwickelt werden. Und dann löst sich der Schuss. Der Schießunfall. Zwei Möglichkeiten. An Selbstmord glaubt sie nicht. Aber was immer sie glaubt, die Technik hat vor der Kate die Fingerabdrücke des »Spatz« gefunden. Irina war in der Kate. Die Frage ist, war sie die ganze Zeit dort? Seit ihrer Flucht aus dem RiT? Nein. Die Studentinnen in der Unikneipe, die Bier zapfende Studentin, können etwas anderes erzählen. Können erzählen, dass Irina zusammen mit dem »Jäger« gesehen worden ist, am Abend, ehe sie Anne-kins Mobiltelefon angerufen hat. Es geht hier nur um einen Tag.
    Aber wo um alles in der Welt hat die Kleine in der Zwischenzeit gesteckt? Und warum zum Teufel ist der »Spatz« mit einem wildfremden Mann tief in den Wald gegangen, in eine Kate, in der Nähe von Trondheim? Anne-kin begreift nichts und weniger. Was hätte sie selber gemacht, wenn sie in einem fremden Land auf der Flucht wäre? So muss sie jetzt denken, muss versuchen sich in die Gedankenwelt der anderen hineinzuversetzen. In ihre Handlungen. Nur gelingt ihr das nicht. Denn wenn sie, Anne-kin Halvorsen, in einem Krankenhaus in Murmansk, Neapel, Kuala Lumpur oder Santa Fe aufwachte, dann würde sie die nächstgelegene Botschaft aufsuchen. Sei die nun norwegisch oder russisch, chinesisch oder iranisch. Sie würde sich nicht abweisen lassen, sondern hineinstürzen und laut verkünden: »I am a Norwegian Citizen and I want to speak to the Ambassador. At once!« Oder so. Warum? Weil sie nun mal nicht ins Land eingeschmuggelt worden ist. Das ist der Unterschied. Irina und die beiden anderen sind eingeschmuggelt worden. Sie betrachten Botschaften und andere Behörden als Feindinnen, machen einen großen Bogen um alles, was nach Staatsmacht und der Frage »can I please have your passport« riecht. Zwei dieser Frauen sind nicht einmal so weit gekommen, dass sie sich diese Möglichkeit überlegen konnten. Sie sind nicht weiter als bis zum Keller des RiT gekommen. Als Leichname, denen das neue demokratische Russland nicht einmal die Rückreise spendieren will. Falls nicht die Bestätigung erfolgt, dass es sich doch um russische Bürgerinnen mit einem legitimen Anspruch auf eine Beisetzung in russischer Erde handelt. Was für eine Welt!
     
    Sundts Anruf reißt sie aus diesem Gedankenwirrwarr. Sagt, sie solle sofort ins Büro der Ermittlungsleiterin, Svanhild Riis, kommen. Sofort.
    Ja, ja, denkt Anne-kin und steht auf, spritzt sich Wasser ins Gesicht, fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Jetzt will die Juristin uns sicher erzählen, was wir alles

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