Die Containerfrau
erschöpften Kollegen von der Nachtschicht und geht in ihr Büro. Dort vertieft Kommissarin Halvorsen sich in den jetzt umfangreichen Ordner, den sie »Containerfrau« getauft hat. Sie liest und liest, wiederholt und fasst zusammen, überprüft Tatsachen und testet Theorien. Denkt »wenn es so war – was dann?« Versucht, so genanntes Wissen mit Fantasie zu kombinieren. Hat sie das nicht bei diesem Job gelernt? Der Fantasie ihr Recht zu lassen? Nein, das hat sie nicht, niemand in ihrer Branche redet von Fantasie – zur Not ist dort von »Einfühlungsvermögen« die Rede. Das bedeutet im Grunde dasselbe, denkt sie, bedeutet, dass die Schleusen geöffnet werden, dass wir uns im Sessel zurücksinken lassen und uns in den Fall einfühlen. Oder fantasieren. Egal wie.
Doch nachdem sie einige Minuten lang ihre Fantasie und ihr Einfühlungsvermögen umgestülpt hat, schaltet sie die Kaffeemaschine ein. Der Besitzer der unregistrierten Waffe, mit der der »Spatz« herumgefuchtelt hat, bleibt weiterhin anonym. Und weder Besitzer, Täter noch die Mauser, die aus der Dachwohnung zwei Schüsse abgegeben hat, tauchen auf. Die Fahnder haben zwar große Augen gemacht und an ihr Glück geglaubt, als sie von einigen Hunde besitzenden Damen angerufen wurden, die die Umgebung der Festung Kristiansten von Abfällen und Flaschen, Hundekacke und Papier befreiten. Sie hatten von einem Fund berichtet. Zwei Stück Geldtresore im Gebüsch. Offen. Und eine, Waffe. Interessant. Aber leider war es ein verrosteter Revolver, kein kürzlich benutztes Mausergewehr. Und das eigentliche Vorgehen im Fall, der Frauentransport von Murmansk nach Norwegen per Gefriertrawler, ist auch nicht so leicht zu begreifen. Ungeheuer komplizierte Methode des Frauenschmuggels. Aber originell. Unvorhersagbar. Und einwandfrei sicherer, rentabler als Bus, Auto, Bahn und Flugzeug, bei denen es überall zu Grenz- und Passkontrollen kommt. Niemand will einen Ausweis sehen, wenn jemand auf See eine Grenzlinie überquert oder streift.
Oder? Sie liest noch einmal einen Abschnitt, der ihre Fantasie nun wirklich anheizt. Dann blättert sie weiter, sieht sich Ausdrucke und Bildschirm an. Firma Nybo AS, repräsentiert durch Sivert K. Ljaam und Gattin, besitzt die Wohnung in Øvre, aus der die Schüsse abgegeben worden sind. In der Nachbarwohnung wohnt eine hyperaktive Journalistin, die mit ihrem wilden Wortschwall den Fahndern allerlei Steine in den Weg legt. Dazu kommen verschwundene Schlüssel, altertümliche Küchenaufzüge und tonnenweise Anrufe, Tipps von Leuten, die erzählen wollen, was sie gesehen, erlebt, erfahren haben. Alles vom Irren, der die Krypta unter dem Nationalheiligtum, dem Trondheimer Dom, für einen Aufenthaltsraum für Nazipack hält, bis zu der pferdeliebenden jungen Barbro, die vom Gestüt Gryta anrief und Unrat witterte, weil die Pferde nachts und ohne ihr Wissen weggebracht wurden.
Das einzig Handfeste, das wir haben, denkt sie mit geschlossenen Augen, das einzig Handfeste ist: drei Frauen, zwei sind tot, eine lebt – in gewisser Hinsicht. Und das Geständnis des Kapitäns und des Jüngsten an Bord. Die Kugel, nein, zwei Kugeln, die mit der Mauser Kaliber 6.5 abgegeben worden sind. Schuhabdrücke in der Wohnung. Dutzendware-Schuhe. Können wir uns damit vor die Presse wagen? Sie gönnt der Ermittlungsleiterin, Frau Svanhild Riis, das Sperrfeuer aus Fragen, das bald einsetzen wird. Die Frau hat einen Knochen hingeworfen. Aber an dem Knochen sitzt kein Fleisch. Auf dem Flur, unterwegs zu »Damen«, sieht Kommissarin Halvorsen den Rücken ihres Chefs. Sundt scheint zum Orientierungslauf zurückgekehrt zu sein, er hat ganz einwandfrei einen Posten im Visier.
»Sundt!«, ruft sie hinter ihm her und sieht, wie er abwehrend die Hand hebt.
»Warte bis zur Besprechung, Halvorsen«, ruft er zurück und ist verschwunden. Ja ja, denkt sie gespannt, das wird also eine außergewöhnliche Unterredung. Ich freue mich.
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Aber die Frauen, wo sind die Frauen? Ein Bordell ohne Frauen oder Freier macht irgendwie nicht viel her. Das ist die Frage, die den meisten ins Gesicht geschrieben steht. Kollege Vang sitzt auf der Stuhlkante, er will sich nicht eine einzige Silbe aus Sundts Mund entgehen lassen.
Irgendwer muss ihnen einen Tipp gegeben haben, denkt Anne-kin Halvorsen, oder vielleicht gibt es mehrere Wohnungen, eine Art Rotationssystem. Und sie waren ja kurz vor dem Umzug. Auch sie lässt ihren Chef nicht aus den Augen, liest ihm zwar nicht von den Lippen
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