Die Creeds: Wenn ein Herz nach Hause kommt (German Edition)
das Schicksal herausfordern?“
Vielleicht war ich das schon immer, dachte Melissa.
Die Geschwister hatten in vielerlei Hinsicht keine leichte Kindheit gehabt. Als die Zwillinge noch sehr jung waren, hatte ihre Mutter sie verlassen, und dann war auch noch ihr Vater ums Leben gekommen, als ihn auf der Stone-Creek-Ranch ein Blitz traf.
Von da an wurden die vier O’Ballivan-Geschwister von ihrem Großvater Big John großgezogen. Zwar hatte dieser sich wirklich ins Zeug gelegt und ihnen all seine Liebe geschenkt, aber natürlich hatte es auch Differenzen gegeben. Nur, gab es die nicht immer und überall? Gab es auch nur
einen einzigen
Menschen, der völlig unversehrt ins Erwachsenenleben überwechselte? Melissa konnte sich das nicht vorstellen.
„Melissa?“, fragte Ashley, als das Schweigen zu lange dauerte.
„Mir geht es gut, wirklich“, beteuerte diese und biss sich auf die Unterlippe, während sie in den Kühlschrank sah, wo sie nichts entdeckte, was ihren Appetit wiedererwecken konnte. „Sag mir nur, was ich tun soll, wenn die Sitte dein Haus stürmt, weil sich irgendwer von deinen Gästen gestört fühlt und sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses anzeigt.“
Darüber musste Ashley von Herzen lachen, was in Melissas Ohren herrlich vertraut klang. Es war so sehr ein Teil von ihr, dass es ihr manchmal so vorkam, als wären sie und ihre Schwester ein und dieselbe Person.
„Was du tun sollst, willst du wissen?“, zog Ashley sie auf. „Okay, du könntest einfach ein bisschen lockerer werden und zum Beispiel dieses Krocketteam verstärken.“
„Ra-send ko-misch, Ash.“
„Melissa?“
„Was denn?“
„Danke, dass du angerufen hast. Ich hab dich lieb. Und in ein paar Tagen bin ich auch wieder da.“
Melissa betrachtete einen Moment den Hörer, verzog den Mund und legte auf.
Der Hunger trieb sie noch einmal aus der Wohnung und in den Supermarkt, wo sie einen Salat kaufte und außerdem einen fettarmen Joghurt fürs Frühstück sowie die neueste Ausgabe der
Vanity Fair.
Als sie mit der Einkaufstasche in der Hand zu ihrem Wagen ging, sah sie, wie Andrea auf den Parkplatz fuhr. Das Mädchen entdeckte Melissa erst in letzter Sekunde und hatte offenbar nicht mehr genug Zeit, um ihre schuldbewusste Miene zu überspielen.
Melissa lächelte höflich und wartete, bis ihre Assistentin aus dem alten Wagen ausgestiegen war. „Hallo“, murmelte Andrea verlegen.
„Fühlen Sie sich wieder besser?“, fragte Melissa, die einen gut gelaunten Tonfall beibehielt. „Magenkrämpfe können wirklich unangenehm sein.“
Andreas Geschmack in Sachen Kleidung war äußerst fragwürdig und im Grunde genommen genauso schlecht wie ihr Gedächtnis, wenn es darum ging, die Pflanzen im Büro zu gießen, aber sie war ein ehrlicher Mensch. Und sie war intelligent, das wusste Melissa genau. Wenn sie jemals lernen würde, an sich und ihre eigenen Fähigkeiten zu glauben, würde nichts und niemand ihren unvermeidlichen Aufstieg verhindern können.
„Das hab ich nur so gesagt“, antwortete sie kleinlaut. „Ich hatte gar keine Magenkrämpfe.“
„Tatsächlich nicht?“, vergewisserte sich Melissa fröhlich, doch ihr ironischer Unterton kam nicht an.
„Ich bin losgefahren, um Byron abzuholen“, erklärte Andrea und sah betreten nach unten. „Byron Cahill, genauer gesagt.“
„Verstehe“, erwiderte Melissa, obwohl diese Neuigkeit sie völlig überrumpelte. Sie hatte nicht einmal geahnt, dass die beiden befreundet sein könnten.
Nur mit Mühe schaffte Andrea es, den Kopf zu heben und Melissa in die Augen zu sehen. Die angespannte Miene erweckte den Eindruck, als erwarte sie irgendetwas … vielleicht eine mündliche Abmahnung oder eine Moralpredigt oder …
„Byrons Mutter war sehr in Sorge, weil er heute Nachmittag nicht in dem Bus war, mit dem er eigentlich hätte eintreffen müssen“, sagte Melissa und fühlte sich hundemüde. „Sie dachte, ihm wäre irgendetwas Schlimmes zugestoßen.“
„Ich weiß“, flüsterte Andrea. „Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung. Ich hab ihn nach Hause gefahren, seine Mom war schon da und macht ihm jetzt gerade eine Pizza. Ich bin nur hergekommen, um Sprudelwasser zu kaufen und ein paar DVDs auszuleihen.“ Immerhin plagte ihr Gewissen sie genügend, um zu erröten. „Weil Freitagabend ist und überhaupt.“
„Und überhaupt“, wiederholte Melissa amüsiert.
„Werden Sie mich feuern?“
„Vermutlich nicht“, antwortete sie und dachte darüber nach, wie ironisch
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