Die Creeds: Wenn ein Herz nach Hause kommt (German Edition)
eine Spur zu hastig. „Es ist mein Wagen.“
Zwar glaubte Melissa ihrer Assistentin nicht wirklich, aber letztlich war gegen kein Gesetz verstoßen worden. Sie beugte sich vor und zog den aufgerissenen Stoff von ihren Knien. Das Brennen ließ sie zusammenzucken.
Einen Moment lang zögerte Byron, dann machte er einen entschlossenen Schritt auf sie zu. „Vielleicht haben Sie sich doch verletzt“, sagte er.
Völlig unerwartet kochte die Wut in Melissa hoch und raubte ihr den Atem, zweifellos ausgelöst durch den Beinahe-Unfall. Sie musste an die Fotos von Chavonne Rowan auf dem Edelstahltisch in der Rechtsmedizin in Flagstaff denken. Fotos eines zierlichen, zerschmetterten Körpers, die ihr noch so deutlich in Erinnerung waren, als hätte sie sie erst heute Morgen gesehen.
Vielleicht haben Sie sich doch verletzt.
Verletzt? So wie sich Chavonne
verletzt
hatte, als sie aus dem Wagen geschleudert worden war?
„Ich fahre Sie wenigstens nach Hause, okay?“, sagte Andrea, während ihr Tränen in die Augen stiegen. „Bitte.“
Melissa zögerte kurz, dann nickte sie. Bis zu ihrem Haus war es nicht weit, aber der Nieselregen hatte sich inzwischen zu einem richtigen Regen entwickelt, und außerdem war ihr ein wenig übel.
Byron fasste nicht nach ihrem Arm, um sie zu stützen, obwohl das seine ursprüngliche Absicht gewesen zu sein schien. Stattdessen dirigierte er sie zu Andreas Wagen, hielt ihr die Tür auf und wartete, bis sie eingestiegen war.
Melissa entging nicht, dass Andrea den Sitz ein Stück nach vorn schieben musste, um an die Pedale zu gelangen, aber sie äußerte sich nicht dazu. Auf jedes Detail zu achten lag ihr einerseits im Blut, andererseits erforderte ihr Job das. Trotzdem neigte sie dazu, alle Beobachtungen mit einer gewissen Skepsis zu behandeln und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Dieser Wagen war so gut wie schrottreif, vielleicht musste Andrea den Sitz jedes Mal neu einstellen, wenn sie Platz nahm. Big John hatte auch einmal eine solche Klapperkiste gefahren, bei der der Fahrersitz seinen eigenen Willen besaß und immer wieder korrigiert werden musste.
Andrea hielt das Lenkrad fest umschlossen und sah besorgt in den Rückspiegel, während Byron einstieg. Auf einmal verstand Melissa, was hier los war. Byron hatte die Nacht bei Andrea in deren kleinem Apartment über der Garage der Crockett-Schwestern verbracht, und der Fahrer dieses Wagens war in großer Eile gewesen, von hier wegzukommen, weil die beiden älteren Damen nichts davon wissen sollten. Velda dürfte ebenfalls nicht begeistert sein, dass ihr Sohn die ganze Nacht über weggeblieben war, vor allem so kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis.
Kein Wunder, dass die beiden so nervös waren. Immerhin hätten sie auf ihrer Flucht beinahe die Staatsanwältin überfahren.
„Ich werde pünktlich im Büro sein“, versprach Andrea, als sie wenige Minuten später vor Melissas Haus anhielt.
„Schön“, gab Melissa zurück und stieg aus. Da sie eigentlich ganz gut in Form war, wunderte sie sich, dass ihr alle Knochen wehtaten, als sie sich vom Beifahrersitz erhob.
Byron stieg ebenfalls aus, blieb aber auf dem Fußweg stehen. Durch den Regen kräuselten sich seine Haare, während er dastand und sie aufmerksam beobachtete.
Plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, ihm Mut zuzusprechen, was womöglich daran lag, dass er auf einmal sehr jung und völlig verloren wirkte.
„Sie haben in meinem Garten gut gearbeitet“, sagte sie zu ihm.
„Danke“, erwiderte er, und sie begriff, dass er darauf wartete, sie zur Haustür begleiten zu können.
Melissa winkte Andrea zu und ging zum Gartentor, doch Byron kam ihr zuvor, um das Tor für sie zu öffnen. Ihre skeptische Seite – die sie nicht unterdrücken konnte, immerhin war sie Staatsanwältin – warnte sie davor, nicht zu vertrauensselig zu werden. Wer sich weichherzig zeigte, dem unterstellte man allzu oft, dass sein Verstand genauso nachsichtig war.
Es mochte ja sein, dass Byron im Grunde genommen ein guter Junge war, der einen schweren Fehler begangen und dafür seine Strafe verbüßt hatte. Andererseits war es aber auch möglich, dass er ihr und allen anderen nur etwas vorspielte. Der nächste Schuss und damit die nächste Tragödie waren vielleicht schon zum Greifen nah.
Der Regen lief vom Verandadach, und sie und Byron hechteten unter den Tropfen hindurch in den geschützten Teil vor ihrem Haus.
Beim Joggen trug Melissa den Hausschlüssel an einer Kette um ihren Hals,
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