Die Creeds: Wo die Hoffnung lebt
den Lippen wurde sie schlagartig wach.
Winston lag zusammengerollt zu ihren Füßen und fauchtehalbherzig. Ob es ein Kommentar zu Brody oder Ausdruck seines Ärgers war, weil sie ihn aus tiefstem Schlaf gerissen hatte, wusste sie nicht.
Carolyns Herz hämmerte gegen ihre Rippen, ihr Atem ging schnell und flach. Da lag sie in ihrem dunklen Schlafzimmer, blickte zur Decke auf und kämpfte mit den Tränen.
Sei keine Heulsuse, hörte sie eine der Frauen aus der langen Reihe ihrer Pflegemütter sagen. Kein Mensch kann eine Heulsuse leiden.
Weiterzuschlafen kam nicht infrage, damit der Traum sich nicht wiederholte, also stand sie auf und ging barfuß in die Küche. Sie trug einen selbst genähten Flanellpyjama mit Hündchenmuster. Der Stoff fühlte sich am Oberkörper und zwischen den Schulterblättern feucht an. Schweißnass.
Gewöhnlich brach ihr in Träumen nicht der Schweiß aus.
Dieser Traum war allerdings auch nicht von der normalen Sorte, oder?
Ihr seid nicht Brody. Die Worte hallten noch in ihrem Kopf nach.
Sie nahm einen Becher aus dem Schrank – ein Souvenir aus Cheyenne, Wyoming –, füllte ihn mit Wasser, hängte einen Kräuterteebeutel hinein und stellte ihn in die Mikrowelle.
Ein Hund wäre mit mir aufgestanden, um mir Gesellschaft zu leisten und mich zu beruhigen. Winston dagegen trat nicht in Erscheinung, weder mitfühlend noch sonst wie.
So viel zu Katzen.
Nicht dass Winston ihre Katze gewesen wäre – er war ein häufiger Gast, mehr nicht. Auf der Durchreise.
Die Katze anderer Leute.
Das Haus anderer Leute.
Wie es aussah, gehörte alles in ihrem Leben jemand anderem.
Einschließlich Brody Creed. Wann immer es Joleen Williams in die Stadt verschlug, waren sie und Brody unzertrennlich. Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, bis Joleen ihn sich endgültig angelte.
Und er baute ein Haus, nicht wahr? Ein großes Haus, in dem ein Mann nicht allein leben sollte.
Die Mikrowelle piepte, und Carolyn nahm den Becher heraus.
Der Tee hatte die übliche Placebowirkung, und sie wurde ein wenig ruhiger.
Sie brauchte Ablenkung, wollte den Computer aber nicht wieder einschalten, aus Angst, dass noch mehr Männer auf der Suche nach Carol auftauchten. Stattdessen schaltete sie das Licht im Treppenhaus an und stieg die Stufen hinunter.
Der Laden wirkte im Mondlicht wie verzaubert. Wie eine verwunschene Werkstatt, in der Wichtel an Miniaturnähmaschinen rüschige Baumwollschürzen nähten und Ziegenmilchseife siedeten, sobald die Vorräte sich dem Ende zuneigten.
Bei dem Gedanken lachte Carolyn leise.
Sie nähte die Schürzen, und sie kauften die Seife von einer Frau, die ein paar Meilen außerhalb der Stadt eine kleine Ziegenfarm betrieb. Doch ein paar Wichtel würden ihr gelegen kommen, auch wenn nicht Weihnachten war.
Sie liebte den Laden, er erdete sie wie gewöhnlich das Nähen und Reiten, und sie liebte die glitzernde Stille, die sie umgab.
Ein silbriger Lichtstrahl traf auf das Batikbild der indianischen Weberin hoch oben an der Wand und beleuchtete das Kunstwerk, als sollte es eine Botschaft verkünden.
Hier gibt es keine Botschaft, dachte Carolyn. Zumindest nicht in dem Bild.
Aber der Traum? Er war eindeutig eine Manifestation ihres Unterbewusstseins.
Wie immer wollte sie das, was sie nicht haben konnte.
Ob es nun richtig oder falsch war, sie wollte Brody Creed.
Sie stieß einen lauten Seufzer der Verzweiflung aus, stellte ihren Teebecher auf der Glasplatte über der Auslage des handgefertigten Schmucks ab und fuhr sich mit allen zehn Fingern durchs Haar. Warum kann ich nicht loslassen? Immerhin waren sieben Jahre vergangen, seit Carolyn an diesem schrecklichen Morgen in Kims und Davis’ Haus aufgewacht war und festgestellt hatte, dass Brody fort war.
Damals hatte sie geglaubt, er wäre lediglich in die Küche gegangen, um Kaffee zu kochen oder Frühstück zu machen. Er kochte ziemlich gut und tat es anscheinend auch gern.
Carolyn war aus dem Bett gestiegen, hatte einen Bademantel übergeworfen und sich auf der Suche nach dem Mann, den sie liebte, in die Küche begeben.
Statt Brody fand sie eine Nachricht.
Muss weg, hat sich so ergeben.
Das war alles.
Muss weg, hat sich so ergeben.
Die Tränen, die schon nach dem Traum beinahe geflossen wären, drohten sich erneut Bahn zu brechen. Carolyn fröstelte, schlang die Arme um ihren Oberkörper und blickte in ihr eigenes elendes Gesicht im großen Spiegel hinter dem Tresen.
„Kein Mensch mag eine Heulsuse“, sagte sie zu
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