Die Cromwell Chroniken: Kaltes Feuer
seine Gedanken wandern, erst dann haben Sie eine Chance, im Kampf gegen ihn zu bestehen.“
Prof. Lichtenfels tippte an den Rand der Folie.
„Wir werden mit den ‚Theoretischen Grundlagen‘ und der ‚Entwicklungspsychologie‘ starten. Hier werden Sie mit der Psychologie als Wissenschaft bekannt gemacht. Wir werden uns statistische Verfahren sowie deren Maßeinheiten, Korrelationen und Messfehler besehen. Anschließend geht es um die Vererbung, die Verhaltensgenetik, die Formbarkeit von Merkmalen und der Umwelt. Wir werden die menschliche Entwicklung, das Säuglingsalter, die Kindheit, Adoleszenz und das Erwachsenenalter studieren. Beginnen werden wir mit den biologischen Grundlagen, damit Sie früh die Gelegenheit erhalten, sich davon zu überzeugen, dass die zukünftige Partnerwahl nicht dem Zufall überlassen werden darf. Schließlich wollen Sie alle doch einmal Nachkommen produzieren, die es wert sind, Ihren Familiennamen tragen zu dürfen, nicht wahr?“
Mit einem kalten Lächeln ließ er den Blick über die Studenten schweifen. Valerian sah sich ebenfalls um. Cendricks Miene troff vor Selbstgefälligkeit, als sei er sich völlig sicher, dass seine Eltern in dieser Hinsicht vorgesorgt hatten. Seine Schwester trug wie gewohnt eine verschlossene Miene zur Schau. Es war schwer einzuschätzen, ob sie die Zuneigung, die ihr Bruder gegenüber dem Professor empfand, teilte oder nicht. Flint verschränkte die Arme und starrte seinen Kuli an, der auf dem Tisch lag. Linda saß mit zu Fäusten geballten Händen da und blitzte den Dozenten herausfordernd an. Es war abzusehen, dass sie gleich etwas Dummes tun würde. Dann schoss ihre Hand auch schon in die Höhe.
Sie war es leid, diesem aufgeblasenen Kerl mit seiner selbstgefällig grau-braunen Aura zuzuhören. Ohne darauf zu warten, von ihm aufgefordert zu werden, schoss sie los: „Professor, sind Sie sicher, dass wir immer noch beim Fach Psychologie und nicht schon bei Dr. Mengele angelangt sind?“
Damian Lichtenfels antwortete nicht, doch sie hörte erst das leise Knarzen vom Öffnen einer Schublade, dann Rascheln vom Durchblättern von Papier. Es verstrich eine ganze Weile und schließlich schloss sich die Schublade wieder. Seine Aura begann sich neu zu färben. Das Grau wurde dunkler und sie wusste, dass sie sich in Acht nehmen musste, bevor die ersten roten Flecken auftauchten.
„Frau Benndorf, wenn ich mich nicht täusche.“
Es klang abgelesen.
Lindas Herz rutschte ihr in die Hose. Heute Morgen hatte sie den Tag eigentlich noch gut gelaunt begonnen. Sie war früher als sonst aufgewacht und konnte dem Regen zuhören, wie er rhythmisch an ihr Fenster prasselte. Sie hatte den kühlen Luftzug genossen, der das Zimmer erfrischte. Endlich hatte es sich gelohnt, die langärmligen T-Shirts mitgenommen zu haben.
Hätte sie doch jetzt einfach ihren Mund gehalten, dann wäre der Kurs wenigstens an ihr vorbeigeplätschert, aber nein, sie hatte sich provozieren lassen. Jetzt musste sie sich der Diskussion stellen – und dazu hatte sie überhaupt keine Lust.
„Marlinde Benndorf, das ist richtig.“
Sie konnte nur mit Mühe ein Seufzen unterdrücken.
„Frau Benndorf, bitte lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Besitzen Sie einen Bachelor oder Master in Psychologie?“
Er versucht es also auf die hinterlistige Tour. Na großartig , dachte die blinde Seherin. Sie presste die Lippen zusammen und schwieg.
„Frau Benndorf? Haben Sie meine Frage nicht verstanden? Ich formuliere sie gerne für Sie um“, setzte der Professor mit scheinheiliger Freundlichkeit nach. Ein lauerndes, schmutziges Rot-Orange schlich sich in seine düstere Farbpalette. Er hatte Blut geleckt …
„Danke, das ist nicht nötig. Ich habe die Frage verstanden. Nein, ich besitze nichts dergleichen, wie Sie sicher wissen.“
„Ah, dann darf ich Ihre Frage als Wunsch interpretieren, etwas mehr über die Psychologie zu lernen?“
„Ja, genau, darum geht es mir. Ich möchte etwas lernen.“
Fast hätte sie erleichtert aufgeatmet, wäre ihr nicht das Misstrauen in Flints Aura aufgefallen.
„Sehr schön. Dann lade ich Sie ein, heute Abend meinen Kurs Beschwörungen II zu besuchen. Ich bin sicher, dass die Siebtsemestler nichts dagegen haben, wenn Sie zu uns stoßen. Dort wird sich für Sie ganz gewiss die Gelegenheit zum Lernen ergeben. Der Kurs beginnt um 22 Uhr. Ich werde Sie im Foyer erwarten.“
Damit schien für ihn das Thema erledigt zu sein.
Was? Muss ich jetzt etwa nachsitzen?
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