Die Cromwell Chroniken: Kaltes Feuer
Lebensjahr als vermisst, aber ihre Mutter war nicht sehr gesprächig, wenn sie mehr über dieses Thema erfahren wollte. Sie hatte nie herausgefunden, ob ihr Vater die Familie verlassen hatte oder die Familie ihn. Als Linda noch klein war, hatte sie sogar immer behauptet, dass ihr Vater im Himmel sei. Erst in Gesprächen mit Tom hatte sie herausbekommen, dass er noch lebte. Ihr Bruder erinnerte sich besser an ihn, doch auch er hatte nie mehr in Erfahrung gebracht als Linda.
Nach einer Weile stellten sie keine Fragen mehr. Ihre Familie funktionierte so, wie sie war. Helene Benndorf war eine großartige Mutter und Sibylle, deren Mutter, eine hingebungsvolle Oma. Davon abgesehen waren diese Frauen mächtige Seherinnen. Tom und Linda würden unglaublich viel von ihnen lernen können. Ihr Opa Heinrich starb auf einer Geschäftsreise im Ausland und der Familie war es nicht erlaubt worden, die sterblichen Überreste in die Heimat zu bringen. Das war im selben Jahr geschehen, als ihr Vater die Familie verlassen hatte. Es war schon merkwürdig und belastend gewesen, zwei so liebe Menschen kurz nacheinander zu verlieren und beide an keinem anständigen Grab betrauern zu können.
Linda schüttelte energisch den Kopf. Sie wollte sich jetzt nicht die Laune verderben lassen. Dieses Wochenende würde sie mit ihren Liebsten verbringen und darauf freute sie sich schon sehr. Kein Grund also, es sich selbst kaputt zu machen. Sie trat mit Tasche und Blindenstock bewaffnet aus dem Zimmer. Unterwegs begegnete ihr Flint. Sie sah ihn schon von Weitem. Irgendetwas belastete ihn.
„Hi, Linda. Gehst du nach Hause?“
„Für das Wochenende, genau“, nickte sie zustimmend.
Sie hörte sein Seufzen.
„Ich werde auch am Wochenende zu Hause sein.“
„Oh, bei deiner Familie?“
„Bei meinem Vater“, kam die wenig begeisterte Antwort.
„Du klingst ja nicht sehr erfreut.“
„Hm …“
„Wirst du abgeholt?“, versuchte Linda, das Gespräch aufrechtzuerhalten.
„Nein, der Cromwell-Chauffeur bringt mich zu ihm.“
„Und wann bist du wieder hier?“
Sie vermutete richtig, dass er am liebsten nur die Schulter zucken und dem Gespräch ausweichen wollte. Doch das konnte er nicht, da er wusste, dass sie seine Reaktion nicht sehen würde. Es war zwar etwas ungerecht, doch sie wollte ihn zum Reden ermuntern. Nicht, weil sie neugierig war, sondern weil sie feststellte, dass es ihm guttat. Es dauerte immer eine Weile, doch seine bedrückte Aura hellte sich meist auf, sobald er eine Weile mit ihr und Valerian zusammen war.
Bevor Flint ihr jedoch antworten konnte, hatte sie ein gut gelaunter Valerian eingeholt. „Ach, hier seid ihr! Abendessenzeit! Kommt ihr mit in den Speisesaal? Ich hoffe ja auf Pizza …“
Linda hob ihre Tasche ein Stück hoch und lächelte schief.
„Oh“, erklang die enttäuschte Antwort des Unsterblichen.
„Ich sehe, du gehst nach Hause. Du etwa auch, Flint?“
Nun klang er sehr verblüfft.
„Ja“, antwortete sein Zimmergenosse trostlos.
Linda hörte Valerian leise glucksen und schmunzelte ebenfalls.
„Er scheint sich nicht besonders zu freuen“, kommentierte sie.
„Kein Wunder, ich will auch nicht nach Hause. Glücklicherweise hat meine Tante wenig Begehr, meine Präsenz einzufordern.“
Linda wandte sich wieder dem Ausgang zu.
„Ich bin am Sonntagabend wieder da! Ich hoffe, dass du uns dann etwas Tolles von deinem Wochenende erzählen kannst, Valerian. Und du auch, Flint.“
Lachend trat sie ins Freie.
Von vorne hörte sie Schritte, die ihr nur allzu vertraut waren. „Da ist sie ja, meine Rabenschwester!“, erklang Toms neckende Stimme.
Ein Hauch von Gold schimmerte ihr in seiner Aura entgegen und sie wusste, dass sie ein schönes Wochenende haben würde.
Langeweile.
Valerian hasste es, sich dies einzugestehen, doch er langweilte sich. Er vermisste Linda und ihre gute Laune. Er vermisste sogar FLINT!
So weit bist du schon gesunken. Asche auf dein Haupt!
Er hatte so viele Pläne gehabt. Endlich mal ausschlafen und die Angebote von Cromwell nutzen. Die AGs, die Sporthalle, den Swimmingpool! Eventuell mal einen Besuch in der Innenstadt … Eine Woche schon ohne Tante Edith und Björn. Und Flint weg. Sturmfrei! Warum fand er plötzlich keinen Gefallen mehr daran? Er ärgerte sich darüber. Nachts schielte er auf Flints Bett, ob er nicht doch schräg gegenüber lag, und tagsüber hielt er immer mal wieder Ausschau nach bekannten Gesichtern. Doch auch die van Gentens schien es nach Hause
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