Die Cromwell Chroniken: Kaltes Feuer
sich die Kenntnis des Althochdeutschen entzieht“, erwiderte der Professor und warf dem Unsterblichen einen abfälligen Blick zu.
„Die toten Kindlein“, hauchte Linda.
„Korrekt, Frau Benndorf! Die Seelen der Kinder, die den Tod fanden und nun zwischen dieser und der nächsten Ebene festsitzen, ohne Hoffnung, sich aus eigener Kraft befreien zu können. Ewig verdammt, im Nichts zwischen den Welten zu treiben. Ohne ein Bewusstsein für Zeit und Raum. Die meisten halten sich für lebendig und suchen ihre engsten Verwandten oder ein liebgewonnenes Kuscheltier. Solch einen Geist hat Ihnen mein Beschwörungskurs gerufen. Ich hoffe, Sie erweisen sich der Aufgabe als würdig.“
Die Antwort war in solch einem nüchternen Tonfall gesprochen, dass Valerians sich wünschte, den Professor als Sandsack zu missbrauchen.
„Und wie sollen wir die Kinder nun erlösen? Wäre das nicht eher die Aufgabe des Paters?“, kommentierte Valerian bissig.
„Vorsicht, Herr Wagner! Ihr hitziges Temperament und Ihre ungezügelte Zunge haben Sie bereits zwei Abende in dieser Woche gekostet. Und glauben Sie mir, ich habe noch viele Aufgaben für Sie, wenn Sie sich weiterhin weigern, einen respektvollen Tonfall mir gegenüber anzuschlagen.“
Das aufkeimende Streitgespräch schien Linda aus ihrer Erstarrung zu lösen, denn sie griff nach Valerians Arm und sagte leise: „Komm!“
Die drei Erstsemestler traten tiefer in den Raum hinein.
Unzufriedenheit wuchs in Valerian. Er wusste, nein, er fühlte, dass etwas nicht stimmte. Je weiter sie nach vorne traten, desto kälter wurde es. Und er spürte, wie sich die ersten Härchen auf seinen Armen aufrichteten. Fast erwartete er, dass sein Atem kleine Wölkchen in der Luft bilden würde, doch das war natürlich albern.
„Würde mir mal jemand erklären, was hier überhaupt vor sich geht?!“, flüsterte er eindringlich.
„Sie haben ein Kind beschworen. Ein verstorbenes Kind, das nicht in die nächste Ebene gehen kann“, hauchte Linda zurück.
„Ja, das habe ich jetzt auch mitbekommen. Aber was soll das heißen? Ich sehe keinen … Geist …“
„Es steht direkt neben dem Schaukelpferd“, wisperte sie bedrückt.
Valerian blickte wieder nach vorne. Das Holzpferd stand still. Hatte er sich die Bewegung von vorhin nur eingebildet? Vielleicht war ein Luftzug durch die Tür ins Zimmer …
Sei kein Spinner! Wir befinden uns hier im Keller! Wo soll da Durchzug herkommen? Wenn du schon keine übersinnlichen Kräfte hast, dann sei wenigstens aufmerksam!
Sein Teufelchen hatte sich also auch wieder gegen ihn gewandt.
„Wie kannst du … es … überhaupt sehen? Ich dachte, du bist blind?“, lenkte er frustriert ab.
„Jedes lebende Wesen hat eine Aura: Pflanzen, Tiere, Menschen. Magische Dinge wie Amulette, Zaubersprüche oder Geister haben ebenfalls eine. Sie sehen zwar anders aus, aber wenn ich mich darauf konzentriere, kann ich die Umrisse erkennen“, tuschelte sie.
„Na schön, das erklärt aber noch lange nicht, warum Mister Schweigsam auf einmal auch Geister sieht“, meinte er, auf Flint deutend.
Beide wandten sich ihm zu.
Flint trat direkt vor das Schaukelpferd und ging in die Hocke. Als er sprach, ließ sein Blick nicht einen Moment von dem unsichtbaren Objekt ab. Seine Stimme war nur ein Hauch und doch fuhr es Valerian durch Mark und Bein: „Es ist ein Mädchen. Vielleicht vier Jahre alt … Sie kommt nicht aus unserer Zeit. Ihre Kleider sehen aus wie aus dem 19. Jahrhundert. Sie trägt … Wie heißen diese senkrechten Locken?“
„Zapfenlocken?“, schlug Linda vor.
„Ja, so was in der Art … Sie hat ein kurzes Kleidchen an … und sie … singt.“
„Sie – was?“, fragte Valerian ungläubig.
„Ich denke“, fuhr Flint leise fort, ohne auf die Frage einzugehen, „dass sie bereits über 100 Jahre tot ist. Vielleicht sogar 150 Jahre.“
Er wandte sich um und sah mit ernster Miene zu Linda auf. Ihre Augen hatten sich erschrocken geweitet. Sie starrte ins Nichts.
Valerian fühlte sich ausgeschlossen. Als hätten die beiden eine bedeutende Information ausgetauscht und diese wäre an ihm unbemerkt vorübergezogen.
„Na schön, dann ist sie eben schon lange tot und trägt den Titanic-Look! Was soll’s?“
Linda schüttelte den Kopf.
„Du verstehst das nicht. Geister werden, je länger sie in dieser Form existieren, immer schwächer – bis sie irgendwann verschwinden. Meist ‚überleben‘ sie nicht länger als 25 Jahre. Wenn dieser Geist aber schon seit
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