Die Cromwell Chroniken - Schicksals Pfade (German Edition)
und nur noch eine leere Hülle blieb zurück in Flints Armen. Von weit weg hörte er, wie die Tür sich erneut öffnete. Hörte den Klang der Stimme seines Vaters.
Langsam drehte sich Flint zu ihm um und wollte ihm sagen, dass es zu spät war. Dass alles zu spät war. Doch seine Kehle war wie zugeschnürt und sein Herz so unheimlich schwer. Kurz blickte Flint zu Ramona hinüber, die sich hinter dem Bett auf den Boden kauerte. Sein Vater konnte sie nicht sehen. Er sah nur ihn – Flint. Mit einer blutbesudelten Hand über die Leiche seiner Mutter gebeugt. Das war alles, was er sehen musste.
Flint öffnete die Augen. Er lag immer noch auf der Liege in Desmondos Büro. Er starrte an die Decke und rührte sich nicht. Heiße Tränen liefen über seine Wange.
Wenn ein Moment günstig zum Sterben ist, dann bestimmt dieser.
Er hatte sich schon lange nicht mehr so hohl und ausgebrannt gefühlt. Sein Inneres schmerzte und sein Äußeres war wie betäubt. Er wollte nicht denken. An nichts und niemanden. Jeder Gedanke rührte an etwas, was ihm Schmerzen zufügte. Er fühlte sich schwach und er verabscheute sich dafür.
Es ist schon so lange her … Warum tut es immer noch weh? Warum hört es nicht auf? Warum nicht?
Der Professor ließ Flint Zeit, zu sich zu kommen.
„Ich begreife nicht, warum ich immer noch nicht damit umgehen kann“, begann Flint mit leiser Stimme zu sprechen. Er ging davon aus, dass Desmondo etwas von ihm hören wollte, also konnte er gleich sagen, was ihm durch den Kopf ging.
Es vergingen einige Augenblicke, ehe der Professor sagte: „Ich habe da eine Vermutung. Wollen Sie sie hören?“
Flint nickte, ohne dem Blick des anderen zu begegnen.
„Wann haben Sie sich Zeit genommen, den Verlust Ihrer Mutter zu betrauern?“, erkundigte sich der Professor.
Schweigen.
Der Student starrte an die Zimmerdecke, ohne etwas zu sehen.
Wann habe ich mir Zeit genommen, um zu trauern?
Flint musste darüber nachdenken.
Wieso muss man sich dafür Zeit nehmen? Das macht man doch automatisch, oder nicht? Habe ich etwas falsch gemacht?
Er schüttelte als Antwort den Kopf.
„Das habe ich mir gedacht“, schloss der Prüfer ruhig. „Es ist nicht viel Zeit vergangen zwischen diesem … Vorfall und Ihrer Einweisung, habe ich recht?“
Wieder nickte Flint.
„Es gibt sogenannte Trauerphasen, die jeder Trauernde durchlebt. Wenn man nicht jede einzelne auslebt, dann bleibt man in der Mitte stecken. Das kann dazu führen, dass man die Trauer in das Unterbewusstsein zurückdrängt. Dort ruht sie, bis sie durch einen Vorfall wieder an die Oberfläche gezerrt wird. Und jedes Mal ist es, als hätte man eine frische Wunde, die nicht heilen will. Weil sie dazu keine Gelegenheit hatte“, erklärte Desmondo.
Flint hatte sich noch nie mit so etwas beschäftigt. Er hatte keine Ahnung, ob es stimmte, was der Professor ihm da erzählte.
„Woher wissen Sie das alles?“, fragte der Student tonlos.
„Ich habe einen Doktor in Psychologie. Ich sollte es wissen.“
Flint sah ihn ungläubig an. „Ein UMBRATICUS DICIO als Psychologe? Ist das wirklich eine gute Idee?“, fragte der junge Geisterseher argwöhnisch.
Für einen flüchtigen Moment hoben sich Desmondos Mundwinkel. Dann wurde sein Gesicht wieder gewohnt passiv und aufmerksam.
„Es ist eine weit weniger ungewohnte Wahl, als Sie denken mögen. Über sechzig Prozent der Psychologiestudenten wählen dieses Fach, weil sie selbst Betroffene waren.“
Flint starrte ihn zweifelnd an.
„Sie meinen, dass die meisten Psychologen … selbst verrückt sind?“
„Mitnichten“, antwortete der Prüfer indigniert. „Ich nannte sie Betroffene . Das heißt, dass sie selbst oder jemand in ihrem näheren Umfeld eine Psychotherapie besuchten.“
„Sagte ich das nicht gerade?“
Desmondo ging nicht darauf ein. „Die praktisch tätigen Psychologen und Psychotherapeuten sind in den meisten Fällen sehr kompetente Kollegen“, beharrte er.
„Das ist kein bisschen aufbauend“, stellte der Student fest. Dann seufzte er und schloss für einen Moment die Augen. „Was soll ich jetzt tun?“, flüsterte er.
„Yorick Spiegel nennt in einem seiner Werke acht Aufgaben, die ein Trauernder zu bewältigen hat. Erstens: Die Trauer auslösen. Zweitens: Die Strukturierung des emotionalen Chaos. Drittens: Die Anerkennung der Realität des Todes. Viertens: Das Ausdrücken von widersprüchlichen und als unakzeptabel bewerteten Gefühlen sowie Wünschen. Fünftens: Die Bewertung des
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