Die Cromwell Chroniken - Schicksals Pfade (German Edition)
war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Schweigend wartete sie ab. Joe hatte sich bereits umgedreht und eilte auf sie zu.
Schluck! Okay, der ist ganz schön schnell …
Schon war er bei ihr. Sein Gesicht schwebte über dem ihren. Sie sah zu ihm auf und blickte ein zwei wunderschöne verträumte Augen.
Wahnsinn, die sehen immer noch so aus …
Die Überraschung stand ihr wohl deutlich ins Gesicht geschrieben, denn er stupste sie behutsam mit seiner Nase an.
Das rüttelte die Hexe aus ihrem Dämmerzustand. Ihre Miene verfinsterte sich schlagartig und sie blaffte ungehalten: „Los, zurückverwandeln! Wir beide haben noch ein Hühnchen zu rupfen!“
Graciano streifte ziellos durch die Gänge des Krankenhauses. Er wollte im Moment nicht in der Onkologie-Abteilung sein, deshalb besuchte er die anderen Stationen. Immer wieder hielt er an und starrte aus dem Fenster. Nichts konnte seinen Blick fesseln, nichts seinen Kummer stillen.
„Dich quält doch was. Ich sehe es genau“, hörte der Student eine bekannte Stimme hinter sich.
Als Graciano sich umdrehte, entdeckte er Kai. Der junge Wächter hatte das Gefühl, als wisse der andere genau, was in ihm vorging.
„Brauchst du etwas Ablenkung? Du könntest mir zur Hand gehen.“
„Sicher. Wie kann ich dir helfen?“
„Mir ist eine Patientin abgehauen. Ihr Name ist Anne Reutling. Sie darf die Station eigentlich nicht verlassen, entwischt aber immer wieder. Ich weiß nicht, wie sie das schafft.“ Kai grinste vergnügt. Offenbar war er weder besorgt noch verärgert über das Verhalten der Frau.
„Klar, kein Problem. Wie sieht sie denn aus? Und wo geht sie meistens hin?“, erkundigte sich Graciano.
„Oh, das ist ganz leicht. Sie geht immer in den alten Teil des Krankenhausparks. Dort sitzt sie dann auf irgendeiner Bank. Es ist eine nette, alte Dame. Weißes Haar. Klein. Freundlich. Hat so einen geblümten Morgenrock an. Du wirst sie sicher erkennen.“
„In Ordnung, ich mach mich gleich auf den Weg.“
„Alles klar. Bring sie dann bitte hierher auf ihr Zimmer, sonst verpasst sie wieder ihr Mittagessen.“
Graciano war noch immer aufgewühlt von den Ereignissen des letzten Tages. Die Welt hatte ihren Glanz verloren und seine Augen erkannten überdeutlich die Düsternis der Realität. Deutlich fühlte er die anonyme Atmosphäre des Krankenhauses. Obwohl er fast schon eine ganze Woche hier war, hatte er sich mit niemandem außer Pfarrer Weyer und Kai bekannt gemacht. Vom Pflegepersonal wusste er nur wenige Namen. Einzig die besuchten Patienten kannte er noch. Umgekehrt hatte er aber von einer Krankenschwester erfahren, dass die Ärzte sich meistens schon keine Mühe mehr gaben, die Namen der Patienten zu lernen.
Was ist das für eine schreckliche Welt, in der wir leben? Hier werden Menschen herumgeschoben wie Objekte. Da werden nüchtern Zahlen über Sterblichkeitsraten ausgetauscht, als hingen keine persönlichen Schicksale daran. Und dann … dann trifft es eben die Falschen.
Er ging weiter und weiter, überließ es seinen Füßen, sich den Weg zu suchen. Alles kostete ihn heute unendlich viel Kraft. Er hatte keine Lust mehr, in diesem Krankenhaus zu sein. Alles war eine Qual. Jede Bemühung letzten Endes vergebens.
Sie werden eh alle sterben. Manche vielleicht weniger qualvoll als die anderen, aber das Ergebnis ist doch immer dasselbe: Wir sterben alle. Kein Wunder, dass die Ärzte schon so abgestumpft sind. Wenn ich während einer Sechzig-Stunden-Woche eine ganze Station mit Patienten betreuen müsste, dann hätte ich auch keine Zeit mehr, mich zu den Menschen zu setzen und mir anzuhören, wie schwierig es war, ihr kleines Hündchen bei einer Nachbarin unterzubringen.
In dem Moment fiel Graciano auf, dass dies genau seine Aufgabe war. Er war derjenige, der Zeit und Ressourcen hatte, um den Patienten zu einem menschlicheren Aufenthalt im Krankenhaus zu verhelfen. Die Erkenntnis war bitter. Denn wenn sich Graciano zu etwas im Moment nicht in der Lage sah, dann dazu, liebevolle Zuwendung zu geben.
Der Student brauchte eine ganze Weile, bis er Anne Reutling entdeckte. Er hatte den ganzen Park abgesucht, sie jedoch beim ersten Rundgang nicht finden können.
Wo steckt sie nur? , wunderte er sich.
Erst beim zweiten Mal erspähte er sie im hintersten Teil des alten Parks. Sie sah genau so aus, wie Kai sie beschrieben hatte. Schneeweißes Haar, klein und gebeugt. Sie trug auch den beschriebenen Morgenrock mit Blumenmuster. Die Patientin stand vor
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