Die Cromwell Chroniken - Schicksals Pfade (German Edition)
den Resten einer heruntergekommenen Mauer. Der Putz platzte bereits von den Backsteinen und an manchen Stellen hatten Graffiti die Absperrung „verschönert“. Sie stand nach vorne gebeugt da und schien sich auf eine bestimmte Stelle zu konzentrieren. Als er näher heran war, sah er, dass dort ein großer Riss in der Mauer war. Einige Sträucher wucherten in den Park hinein. Das Ganze bot einen überaus hässlichen Anblick.
Warum bleibt sie da stehen?
In einiger Entfernung hielt er an, um sie zu rufen: „Frau Reutling? Sind Sie Frau Reutling?“
Sie reagierte nicht.
Vielleicht hört sie nicht mehr so gut.
Er kam ein paar Schritte näher. Ganz vorsichtig, damit sie sich nicht erschreckte, wenn sie ihn plötzlich sah. „Frau Reutling? Ich bin Graciano Fernandez. Kai, Ihr Pfleger, schickt mich.“
Eine Bewegung ging durch den Körper der alten Dame und sie drehte den Kopf in seine Richtung. Interessiert musterte sie ihn.
„Kai schickt mich“, sagte der Student noch einmal. „Er möchte nicht, dass Sie Ihr Mittagessen verpassen. Wir sind schon recht spät dran.“
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Kommen Sie, junger Mann, kommen Sie. Ich will Ihnen etwas zeigen.“
Mit ihrer dünnen, zittrigen Hand winkte sie ihn näher.
Graciano blickte auf seine Uhr und sah, dass es bereits halb zwölf Uhr vorbei war. Die Essenausgabe hatte bereits begonnen.
Wir schaffen es eh nicht mehr pünktlich, also kann ich ihr auch noch ein wenig Zeit lassen , beschloss er.
Seufzend folgte er ihrem Zeichen und stellte sich neben sie. Erst da erblickte er, was bisher verdeckt war: eine Heckenrose. Ein einziges kleines Röschen im kargsten Teil des Krankenhausgartens. Hätte Anne Reutling ihn nicht förmlich darauf gestoßen, er hätte es übersehen.
„Ist sie nicht wunderhübsch?“, hauchte die Frau ergriffen.
Graciano betrachtete das zierliche Gewächs und nickte kurz. „Sehr hübsch, ja.“
Doch es war eigentlich mehr so dahingesagt. Die Blume interessierte ihn nicht.
Mich interessiert im Moment überhaupt nichts , stellte er bekümmert fest.
Die alte Dame war immer noch in den Anblick der Pflanze vertieft. Sie betastete behutsam die weit geöffnete Blüte und lächelte selig.
„Sehen Sie nur! Sehen Sie, wie wundervoll sie ist! Wie samtig weich jedes Blatt. Wie intensiv ihre Farbe. Wie köstlich süß ihr Duft. So wie sie ist, ist sie perfekt. Geschaffen von einem Verstand, der unserem weit überlegen ist.“
Sie nickte andächtig, wie um ihre eigenen Worte zu unterstreichen.
Graciano sah sie wie gebannt an. Er wusste nicht, was er sagen sollte, also schwieg er. Doch Anne Reutling bedurfte keiner Ermunterung. Sie genügte sich selbst als Gesprächspartner.
„Unser Leben ist so oft furchtbar und hässlich. Wir leben in Krieg, Angst, Armut und wir quälen einander. Aber … diese Rose blüht.“
Sie drehte sich zu Graciano um und betrachtete ihn auf eine Weise, als müsse er sie verstehen. Als ergebe jedes Wort, das sie sagte, einen Sinn. Der junge Mann wusste nicht, wieso, aber etwas schnürte plötzlich seine Kehle zu und es fiel ihm schwer, zu schlucken.
Die alte Dame lächelte sanft, als sie fortfuhr: „Trotz allem Hässlichen ist sie schön. Wider alles Furchtbare bahnt sie sich ihren Weg ans Sonnenlicht und lässt ihre Farben strahlen. Keine Mauer kann sie zurückhalten. Sie bahnt sich trotzdem ihren Weg.“
Graciano musste blinzeln. Hier, mitten im Krankenhauspark, bei dieser gebrechlichen, alten Frau, drohte er die Fassung zu verlieren.
Was ist mit mir los?
Anne Reutling streckte ihre Hände nach ihm aus und umschloss seine Rechte. Sie fühlte sich warm an. Ergriffen wartete er auf ihre nächsten Worte. „Wahre Schönheit begegnet uns oft an Orten, an denen wir sie nicht vermutet hätten.“
Eine einzelne Träne rann über die Wange des angehenden Wächters. Zutiefst gerührt stand er da, unfähig zu sprechen. Er sah die Welt in ihrem ganzen Elend, doch dies verblasste neben dem Feuer des Glaubens dieser Frau. Bekümmert musste Graciano feststellen, dass trotz all der klugen Worte, die er in den letzten Tagen von sich gegeben hatte, er es gewesen war, der in seinem Glauben wankte. Dass er es gewesen war, der sich zunehmend von Gott entfernt hatte. Graciano hatte verpasst, nach der Schönheit, nach Gottes Spuren an diesem Ort zu suchen. Stattdessen hatte er nur seinen Blick auf das Negative gerichtet. Hatte mit sich und allem gehadert. War von dem Weg abgekommen, den er gewählt hatte, der
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