Die Cromwell Chroniken - Schicksals Pfade (German Edition)
Mann überhaupt niemanden erschießen wird? Was, wenn du die Vision falsch interpretiert hast und er auf eine Person hinter deinen Bekannten schießt? Was, wenn diese andere Person in Wirklichkeit der Bösewicht war? Das kann man noch weiterspinnen. Vielleicht ist es gerade dein Einschreiten, welches die Katastrophe ermöglicht. Dabei wolltest du doch größeres Übel verhindern. Siehst du, wohin das führt?“
Katharina nickte. „Sehr unschöne Möglichkeiten tun sich auf.“
„Richtig. Es gehört enorm viel dazu, die Bilder in Visionen richtig zu interpretieren. Mal ganz davon abgesehen, dass du in dem Moment, in dem du dich auf diese Voraussagen verlässt, deinen freien Willen aufgibst.“
„Hm. Wenn man das so betrachtet, dann ist es ja fast schon gefährlicher, in die Zukunft zu blicken, als es nicht zu tun.“
Patricia nickte leicht und wirkte auf einmal betrübt.
„Ganz genau. Eine große Verantwortung. Zu groß, um sie auf den eigenen Schultern zu tragen. Ich möchte dir davon abraten.“
Der Studentin war der Gefühlswandel ihrer Prüferin nicht entgangen.
„Verstehe. Aber das sollte kein Problem sein, ich bekomme meine Visionen ja sowieso immer sehr überraschend“, versuchte sie die andere aufzumuntern.
Patricia lächelte wieder.
„Und das ist für den Moment ganz gut so. Vertraue darauf, dass die Macht, die dir diese Visionen schickt, dir die wichtigsten Informationen von ganz allein liefert. Erzwinge nichts. Später wirst du dann lernen, wie du gesteuerte Visionen empfängst. Aber bevor das passiert, wollen wir erst einmal mit unserer Prüfung fortfahren, einverstanden?“
Katharina musste schmunzeln.
„Einverstanden.“
Kapitel 20
Es war bereits spät, als Graciano in sein Zimmer geführt wurde. Er schlief im Wohnhaus des Pflegepersonals direkt neben dem Krankenhaus. Der Ort lud nicht gerade zum heimisch werden ein. Die Krankenhausangestellten kehrten spätestens an ihren freien Wochenenden in ihr eigentliches Zuhause zurück.
Für die Dauer seiner Prüfung war Graciano hier untergebracht. Der Raum war ungefähr zehn Quadratmeter groß. Darin standen ein Doppelstockbett, ein schmaler Schrank, eine kleine Kommode, zwei Nachttischchen, ein winziger Tisch und zwei einfache Holzstühle. Man konnte sich in dem kleinen Zimmer kaum drehen.
Während dieser Anblick andere womöglich abgeschreckt hätte, fühlte sich der Student an die Zeit zurückerinnert, als er Spanien besucht und in einem Kloster gelebt hatte. Die Zellen dort waren zu einem Hort der Geborgenheit für ihn geworden.
Mit einem versonnenen Lächeln nahm er auf der Bettkante Platz.
Das ist also mein erster Tag gewesen …
Graciano ließ die Eindrücke der vergangenen Stunden Revue passieren und merkte, dass sein Unbehagen Krankenhäuser betreffend ihn davon abgehalten hatte, sich mit seiner Aufgabe zu beschäftigen.
Ich war so konzentriert auf meine Angst, dass ich beinahe eine wichtige Chance verpasst hätte , stellte er bedrückt fest.
Doch war es verwunderlich?
Nein, nicht im Geringsten.
Der Student schluckte schwer und blickte auf seine Hände. Langsam verschwammen sie vor seinen Augen und eine Träne kullerte ihm über die Wange. Es war zehn Jahre her, dass er das letzte Mal ein Krankenhaus betreten hatte. Damals war ein wichtiger Mensch in seinem Leben gestorben: Pfarrer Leonhard Schulz. Er war wie ein zweiter Vater für ihn gewesen.
Graciano war das siebte Kind der katholischen Familie García Fernandez. Kurz nach seiner Geburt war die Familie von Spanien nach Deutschland ausgewandert.
Um neu anzufangen.
Der Neuanfang hatte für seine Mutter allerdings ganz anders ausgesehen als erwartet: Sie hatte die Familie verlassen und sein Vater musste allein mit sieben Kindern zurechtkommen. Im Nachhinein musste Graciano zugeben, dass sein Vater sehr viel für sie getan hatte. Als Jüngster der Familie hatte er jedoch immer unter seiner Distanziertheit gelitten. Seine älteren Geschwister, mehrheitlich Jungs, hatten sich auch nicht um Graciano gekümmert. Im Gegenteil: Immer wieder warfen sie ihm vor, dass die Mutter wegen ihm gegangen sei. Leonhard Schulz war seine Rettung gewesen. Er war Pfarrer in dem kleinen hessischen Ort gewesen, in dem Graciano mit seiner Familie gelandet war. Er hatte die Not des überforderten Vaters gesehen und angeboten, den Jüngsten zu sich zu nehmen. So war Graciano bei den Schulzes aufgewachsen und hatte, aus Dankbarkeit und Achtung ihnen gegenüber, seine Konfession gewechselt. Sein
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