Die da kommen
Ahnen beherrschten. »Verstanden? Lass mich nicht hängen, Kumpel. Du wirst dafür bezahlt, dass du über den Tellerrand hinausschaust, aber so weit nun auch wieder nicht. Von dieser Sache hängt viel ab.«
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.«
»Wie bitte?«
»Das war Kants Motto der Aufklärung. Aber wir sind nicht vollständig aufgeklärt, Ashok. Es wird immer dunkle Winkel geben. Die Menschen halten sich gern für rational. Aber die Fähigkeit zum Aberglauben ist in unserer DNA angelegt. Sie kann nicht eliminiert werden. Alle Dinge, vor denen wir uns fürchten – alle ›beschissenen kleinen Männchen‹, wenn du so willst –, sind immer noch so präsent wie früher. Nur sind sie nicht länger äußerlich. Man hat sie nach drinnen gejagt, wo wir sie nicht wieder loswerden.«
Er seufzt. »Na schön. Aber sie werden nicht in den Berichten von Phipps & Wexman auftauchen, da ziehe ich die Grenze. Also kein Harry-Potter-Scheiß und kein gottverdammtes … Ektoplasma. Kapiert?«
Im Bett gehe ich die Nachrichten durch. Mein Blick fällt auf eine Schlagzeile. In Seoul hat ein neunjähriger Junge seinenGroßvater gefesselt, das Gas aufgedreht und ihn in der Küche sterben lassen. In Argentinien hat ein siebenjähriges Mädchen einen Blumentopf von einem Balkon im vierten Stock geworfen und seine Tante am Kopf getroffen, die auf der Stelle starb. Ein führender Kinderpsychologe verlangt eine internationale Konferenz zu diesem »beispiellosen Phänomen«. Er sagt, viele Kinder hätten vor den Angriffen von lebhaften Träumen oder Albträumen berichtet. Danach hätten sie sich still verhalten oder behauptet, nicht zu wissen, was sie getan hätten.
Das Venn-Diagramm in meinem Kopf erwacht spontan zum Leben und beginnt zu wachsen. Ich muss mit Professor Whybray sprechen. Da er ein größerer Querdenker als ich und kein so »unheilbarer Materialist« ist, dürfte er schneller und weiter vorangekommen sein.
Er und Freddy sind einander nie begegnet. Aber sie würden sich gut verstehen.
Gemeinsam bilden wir ein überzeugendes gleichseitiges Dreieck.
Annika Svensson bietet mir am nächsten Morgen an, mich zum Flughafen zu bringen. Sie hat wieder geweint. Ich sage, sie solle in dieser Situation besser nicht selbst fahren, und schlage vor, das Steuer zu übernehmen, doch sie besteht darauf. Sie müsse sowieso dorthin, um ihre Schwester Lisbet abzuholen. Lisbet kommt aus Minnesota, um Annika bei den Vorbereitungen für das Begräbnis zu helfen und danach den Papierkram und die finanziellen Angelegenheiten zu regeln.
Ja, Jonas ist gestorben. Somit ist Annika am heutigen Freitag, dem 21. September, den ersten Tag Witwe. Er hat die Operation überlebt, eine Stunde später allerdings einen katastrophalen Herzriss erlitten. Technisch gesehen war es nicht Jonas’ Blut, das aus der geplatzten Aorta floss. Es wardas Blut eines anderen oder, präziser gesagt, eine Mischung aus dem Blut mehrerer Leute, denn er hatte eine Transfusion erhalten.
Sie sagt: »Ich will den Grund wissen. Wozu es gut war.« Ich antworte nicht, weil mir keine Antwort einfällt. Allerdings glaube ich, dass alles irgendetwas bedeuten muss. Dass selbst willkürliche Ereignisse irgendeine Bedeutung haben. »Irgendwas ist Jonas zugestoßen, was ihn dazu gebracht hat. Ich sage Ihnen, das war nicht er. Er hat sich benommen, als wäre er jemand anders. Als hätte etwas von ihm … Besitz ergriffen . Und er ist nicht der Einzige. Das weiß ich, Hesketh. Sind Sie nicht deswegen hergekommen?«
Sie muss Gerüchte über weitere Fälle gehört haben. »Wenn man lange genug sucht, gibt es immer tausend Verbindungen«, antworte ich. Wir haben das Abflugterminal erreicht. »Der Trick besteht darin, die richtigen zu finden und nachzuverfolgen.« Sie erinnert mich wieder an den eleganten ozuru , an den ich denken musste, als ich sie das erste Mal vor Jonas’ Krankenzimmer sah. Doch das Leid hat ihre Kanten und Faltungen verändert.
»Bitte, Hesketh, finden Sie heraus, warum das alles passiert ist.«
»Könnten Sie versuchen, alles aufzuschreiben, was Jonas über die Gründe gesagt hat? Selbst wenn sie Ihnen nicht unbedingt plausibel erscheinen?«
Sie holt tief Luft. »Er hat eine Menge gesagt. Ich werde mit meinem Sohn sprechen und Ihnen eine E-Mail schicken.«
Wir verabschieden uns, zuerst auf Englisch und dann auf Schwedisch. Sie zögert, dann drückt sie einen trockenen Kuss auf meine linke Wange. Sie dreht sich
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