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Die Daemmerung

Die Daemmerung

Titel: Die Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
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von dem Pfahl abstieß, in Richtung der fernen Leiter, hakte der Junge die Arme um ihren Hals. Sie bekam keine Luft mehr und kämpfte, bis sie es geschafft hatte, seine Arme auf ihre Schlüsselbeine herabzuziehen. Nach vier oder fünf Schwimmzügen, als sie gerade einen Rhythmus fand, bei dem sich Spatz mehr oder minder auf ihrem Rücken halten konnte, sah Qinnitan die erste Dreiecksflosse vor sich durchs Wasser schneiden. Gleich darauf war da eine zweite. Ihre Gliedmaßen schienen kalt und schwer zu werden.
    Wölfe des Meeres. Nicht die dicken Axtkopfhaie der Kanäle von Xis, sondern welche, die länger waren, hellgrau und schmal wie Messerklingen. Sie paddelte auf der Stelle, weil sie sich weder vorwärts noch zurück traute, doch die Rückenflossen entfernten sich. Qinnitan betete, dass die Räuber auf andere Beute aus waren.
    Kaum dass diese beiden verschwunden waren, erblickte Qinnitan etliche andere, die weite Kreise zogen, als wären sie sich noch nicht ganz schlüssig, wo sie hinwollten. Leichen im Wasser, begriff Qinnitan mit Entsetzen, Seeleute des xixischen Schiffs — Männer, die umgekommen waren, weil sie das Schiff in Brand gesteckt hatte.
    Sie konnte jetzt nicht darüber nachdenken, nicht über die Seeleute und Soldaten, nicht über die Haie. Spatz hing auf ihrem Rücken, und seine Arme schlossen sich wieder fester um ihren Hals, als ihm aufging, warum sie nicht weiterschwamm. Jeden Moment konnte er in Panik geraten — sie loslassen oder sich gar gegen sie wehren. Auf der Fahrt nach Hierosol hatte sie Seeleute darüber reden hören, wie aussichtslos es war, gegen einen panischen Ertrinkenden anzukämpfen. Sie schwamm weiter, so schnell sie konnte.
    Etwas, das rauh war wie Baumrinde, streifte ihr Bein, und ein heller Schatten glitt an ihr vorbei. Sie schrie auf und schluckte Wasser, doch die Rückenflosse entfernte sich. Es war nur ein kleiner Hai, nicht mal halb so groß wie sie. Sie kämpfte sich verzweifelt vorwärts, aber es fühlte sich an, als ränne die Kraft aus ihr heraus wie Korn aus einem aufgeplatzten Sack. Wo war diese Leiter? Qinnitan wusste nicht einmal mehr, in welche Richtung sie geschwommen war. Die Planken über ihrem Kopf waren weg, also musste sie unter dem Steg heraus sein, aber wo war sie?
    Spatz rutschte wieder von ihrem Rücken. Sie hielt ihn mit einer Hand fest, doch es schien alles so sinnlos, so weit weg. Sie versanken, und ringsum war grünes Dunkel. Sie umklammerte den Jungen, so fest sie konnte, und nahm ihre letzte Kraft zusammen, um mit den Beinen zu treten wie ein Frosch, aber es schien sie kaum weiter empor zu bringen. Als sie gerade das Gefühl hatte, nicht mehr länger den Atem anhalten zu können, war ihr Gesicht plötzlich über Wasser, doch selbst die Luft, die sie verschlang, schien ihre Arme und Beine nicht wiederzubeleben. Erschöpft versank sie wieder.
    Etwas packte Qinnitan am Haar, zerrte so jäh und unerwartet daran, dass sie den Mund öffnete und wieder Wasser schluckte. Im nächsten Moment explodierte um sie herum Licht, und ihr Körper schlug gegen etwas Schweres oder umgekehrt. Ein Hai. Ein Hai musste sie geschnappt haben. Das Ende ... aber wo war Spatz?
    Das Gewicht des Jungen fiel auf sie. Sie lag auf etwas Hartem. Gleich darauf rollte Spatz hustend und nach Luft ringend von ihr herunter, doch Qinnitan sah nichts außer dem wässrigen Zeug, das sie auf die Planken des Stegs erbrach.
    Fester Boden. Sie waren auf festem Boden.
    Ihr Magen krampfte sich wieder zusammen, aber es kam nichts mehr heraus. Sie hustete und spuckte. Eine Hand schlug ihr auf den Rücken, und noch etwas Wasser rann aus ihrem Mund auf die nassen Planken. Sie bekam dunkel mit, dass die Luft nach Rauch roch und etwas weiter weg Leute riefen und rannten, aber in der Nähe war niemand außer ihrem Retter. Sie tastete blind um sich, bis sie Spatz fand. Sein magerer Brustkorb pumpte schwer, während er seinerseits einen Schwall Meerwasser erbrach, aber er atmete. Er war in Sicherheit. Sie hatte ihn gerettet. Qinnitan ließ sich auf die Seite fallen. Sie sah jetzt ein wenig Himmel, schwarzgrau von Rauch, und die undeutliche Gestalt ihres Retters: Die Sonne stand hinter ihm, sodass er nur ein dunkler Schatten war, der neben ihnen aufragte wie ein Berg, ein wohlwollender Gott, der eine mächtige Hand herabgestreckt und sie beide ins Leben zurückgehievt hatte. Sie wollte ihm danken, bekam aber kein Wort aus ihrer brennenden, salzverätzten Kehle, also hob sie stattdessen die Hand, um ihn

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