Die Daemmerung
der Götter war, länger als die vorgesehene Zeit zu trauern? Könnt Ihr Euch so etwas vorstellen? Wir hatten sie alle geliebt. Das Schlimmste, was meinen Kindern widerfahren ist, weit schlimmer noch als der Verlust des Throns oder selbst Kendricks Tod, war, ihre Mutter nie gekannt zu haben, die liebevollste Frau, die je gelebt hat. Ich dachte immer, ich verdiente sie gar nicht — ich konnte nicht glauben, dass sie wirklich mein war.
Und das war sie natürlich auch nicht. Die Götter erinnerten mich daran ... wie es ihre Art ist.«
Olin lachte, und in diesem Lachen lag solcher Schmerz, dass selbst Vash (der das Schreien und Flehen von Dutzenden Männern im Moment ihres Todes gehört hatte, oft eines Todes auf seinen Befehl hin) gegen den Drang ankämpfen musste, sich die Ohren zuzuhalten.
»Ich weiß nicht, was ich sagen will«, begann der König schließlich wieder. »Ich war dabei, von meiner Familie zu erzählen. Es ist fast ein Jahr her, dass ich meine Kinder zuletzt gesehen habe. Kendrick ist tot, er wurde umgebracht, wahrscheinlich auf Betreiben der Tollys, wenn auch vielleicht jemand anders die Tat vollbracht haben mag. Mein aufrechter Sohn — er wollte immer nur das Rechte tun. Er wurde so wütend, wenn jemand gegen die Regeln verstieß, selbst wenn es seine jüngeren Geschwister waren? Sie spielten oft mit ihm Verstecken, versteckten sich an einem Ort, den sie versprochen hatten nicht zu betreten, und lachten ihn dann aus, wenn er sie lange nicht fand. Er brachte es nicht über sich, das Spiel auf die gleiche Art zu spielen, sondern versuchte sie davon zu überzeugen, dass Regelbrüche das Spiel verdarben. Kendrick wäre ein guter König geworden — mit meinem jüngeren Sohn als seinem Kanzler vielleicht, damit der ihn daran erinnert hätte, nicht darauf zu vertrauen, dass andere sich an die Regeln hielten, nur weil er selbst es tat. Denn Barrick, die Götter mögen ihn schützen, falls er noch unter uns ist, lebt in einer ganz anderen Welt.
Barrick war immer schwierig, immer am Hadern, doch nachdem ihn das Leiden erstmals ereilte — mein Leiden, das in ihn eingeflossen war wie das Wasser eines fauligen Flusses —, vertraute er gar nicht mehr auf die Güte des Schicksals. Und wer könnte es ihm verübeln? Schon früh nahm die Krankheit bei ihm denselben Verlauf wie bei mir. Er fiel mit Wutausbrüchen zu Boden, zitternd, kaum in der Lage zu atmen, und schlug so heftig um sich, dass es zwei starke Männer brauchte, ihn zu bändigen, obwohl er noch ein Kind war. Ich litt natürlich großen Kummer, weil ich diesen Fluch über ihn gebracht hatte, doch ich glaubte, ihm zeigen zu können, wie ich selbst damit fertig wurde, wie ich mich immer einschloss, wenn die Anfälle über mich kamen. Aber dann wandelte sich seine Krankheit und suchte sich andere Wege.
Sie ließ ihn nicht mehr wüten und toben wie einen Irren, sondern vergiftete ihn vielmehr langsam von innen her. Barricks Bild der Welt wurde immer düsterer, so wie wenn sich der Mond zwischen Erde und Sonne schiebt. In meiner Torheit glaubte ich zunächst, das Ende der sichtbaren Anfälle hieße, dass es ihm besser ging — dass er irgendwie den Fluch niederrang, der mein Leben so belastet hatte. Ich irrte mich, doch als ich es merkte, war er bereits so weit ins Schattendunkel entwichen, dass ich ihn nicht mehr erreichen konnte. Er war geistreich und klug, aber durch mein verseuchtes Blut so geschädigt, dass ihn wohl nur noch die Liebe zu seiner Schwester am Leben hielt.
Denn er liebte sie, und Briony liebte ihn. Sie waren Zwillinge — sagte ich das schon? —, und ihre Herzen schlugen wie eines, seit sie beide in derselben Stunde zur Welt gekommen waren. Vielleicht hat das ja mit dem Tod ihrer Mutter zu tun. Ach, Götter, ich weiß nichts mehr? Es ist so lange her, und doch fühlt sich der Schmerz so frisch an wie ein Schnitt mit dem Rasiermesser, der noch keinen Tag alt ist.
Und noch ein schmähliches Geständnis — Briony war mir von meinen Kindern das liebste. Nein,
ist
mir das liebste — bitte, Götter, gebt, dass sie noch lebt? Ich habe Kendrick wegen seiner Anständigkeit und Güte und seines Pflichtbewusstseins geliebt, und ich liebte ihn, weil er mein Erstgeborener war. Und ich liebe Barrick trotz allen Leids, das ich ihm bereitet habe und umgekehrt ... doch für Briony empfinde ich eine Liebe, die so mühelos und so unerschütterlich ist, dass ich es gar nicht in Worte fassen kann. Briony trägt alles das in sich, was an mir das Beste
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