Die Daemmerung
kannte, in die einen selbst ein scheinbar freundliches Gespräch mit Sulepis versetzte.
»Ihr missversteht mich ...«, begann Olin, aber der Autarch lachte nur.
»Nein, diskutiert gar nicht erst, wackerer Freund — ein Mann, dessen Atemzüge auf dieser Welt gezählt sind, sollte keinen davon vergeuden. Ich weiß weit mehr über Euch als Ihr über mich, Olin Eddon. Ich habe Euch und Eure Familie beobachtet.«
Der Nordländer an der Reling erstarrte. Wären nicht die grünen Wogen der Ostaeischen See weiterhin am Schiffsrumpf zu Gischt zerstoben, hätte Pinnimon Vash geglaubt, die ganze Welt stünde plötzlich still wie ein aussetzendes Herz.
»Ihr habt uns
beobachtet ...?«
Sulepis sprach weiter, als hätte der andere Monarch nichts gesagt. »Ich weiß, dass Ihr, Eure Hofärzte und andere wissbegierige Gelehrte an Eurem Hof die alten Lehren, die untergegangenen Künste ... und die Zeiten der Götter studiert habt.«
»Ich weiß nicht, was Ihr meint«, sagte Olin steif.
»Mag sein, dass Ihr es ursprünglich aus persönlichen Gründen getan habt — um mehr über die Geheimnisse des verdorbenen Blutes Eurer Familie zu erfahren —, doch im Laufe Eurer langjährigen Studien konntet Ihr gar nicht umhin, mehr darüber zu erfahren, wie die Welt
wirklich
funktioniert, als jene Dummköpfe um Euch herum, die Euch ihren göttergesalbten Monarchen nennen, ohne irgendetwas über die Götter zu wissen.« Plötzlich wurde Sulepis sichtbar, und Vash schrak zurück, aber der Autarch stellte sich nur näher neben Olin, ebenfalls mit dem Rücken zu Vashs verstecktem Beobachtungspunkt. Wachen sah Vash nicht, aber er wusste, sie waren da, und es würde ihnen gar nicht gefallen, dass der Autarch dem fremdländischen Gefangenen so nahe kam.
Es war eine merkwürdig normale Szene: zwei Männer, die nebeneinander an der Reling standen. Wäre da nicht die zeremonielle Gewandung des Autarchen gewesen — der hohe, spitz zulaufende Kopfputz, Bilsenkrautkrone genannt, weil sie dem giftigen Samen dieser Pflanze ähnelte, das riesige goldene Sonnenamulett auf seiner Brust, und natürlich die goldenen Fingerschützer —, Sulepis hätte irgendein gewöhnlicher xandischer Priester sein können, der sich mit einem nordländischen Standesgenossen über Zehntsteuern und Tempelinstandhaltung austauschte. Doch der direkte Blick in diese goldenen Augen, das wusste Vash, gab einem ein ganz anderes Gefühl, mit welcher Art Geschöpf man es zu tun hatte.
Der Nordländerkönig wirkte erstaunlich tapfer: Jeder andere, der die Körperhitze des Autarchen, die fiebrigen Gedanken des Goldenen aus solcher Nähe spürte, wäre zurückgewichen. Am Obstgartenhof wurde geflüstert, dass man sich in Sulepis' Nähe fühle, als sei man schutzlos der Wüstensonne ausgeliefert; wenn man zu lange ausharre, versenge es einem zuerst den Verstand, dann sogar Haut und Knochen ...
Vash schauderte. Früher hatte er solches Gerede als Unsinn abgetan. Inzwischen aber war er bereit, fast alles zu glauben, was seinen Herrn betraf, diesen furchteinflößenden Gott auf Erden.
»Das mag alles etwas schwer zu begreifen sein.« Der Autarch streckte die langen Finger gen Westen, als wollte er die untergehende Sonne vom Horizont pflücken wie eine große Feige vom Baum. »Ich habe mich vielleicht mehr mit diesen Dingen beschäftigt als Ihr, Olin, aber ich weiß, dass Ihr sie begreifen könnt — dass Ihr die Wahrheit verstehen könnt. Und wenn Ihr es tut ... nun, vielleicht werdet Ihr dann anders über mich und mein Vorhaben denken.«
»Das bezweifle ich.«
Der Autarch gab einen Laut der Zufriedenheit von sich. »Kennt Ihr die Geschichte von Melarkh, dem heldenhaften König des alten Jurr? Ihr habt sie sicher schon gehört. Sein Weib trug einen bösen Fluch und konnte ihm keinen Sohn gebären. Er rettete einen Falken vor einer großen Schlange, und aus Dankbarkeit trug ihn der Falke hoch in den Himmel empor, sodass er den Göttern selbst den Samen des Gebärens stehlen konnte.«
Olin sah ihn an, und sein Gesichtsausdruck war so eigenartig, dass Vash ihn nicht deuten konnte. »Ich habe eine ähnliche Geschichte über den großen Helden Hiliometes gehört.«
»Ah, genau das verdeutlicht, worauf ich hinaus will. Die meisten, die diese Geschichte hören, glauben: ›Das ist wahr. Das hat Melarkh — oder Hiliometes, wenn sie die Geschichte so erzählt bekommen — das hat der große Held getan.‹« Für einen kurzen Moment hob sich die Hand des Autarchen wieder, und die
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