Die Daemonen 03 - Am Ende der Zeiten
neu und weiter gewuchert, sodass sie ganz unverhältnismäßig sperrig aus ihm herausragten und ihn zusätzlich zwischen den Gebäuden festkeilten. Ursprünglich hatte sich der Große wohl nur mit den Fesselungsseilen an einer nach außen geschmolzenen Innenwand verhakt und war dann bereits aufgrund der ihm zugefügten Verwundungen zu entkräftet gewesen, sich zu befreien. Aber inzwischen hing er in seinem eigenen Stachelgestrüpp. Und er lebte noch immer. Sein Brustkorb hob und senkte sich matt, aus seinem augenlosen, breiten Gesicht quoll kläglich anzuschauender Atemrauch. Es duftete so sehr nach weißen Rosen, dass es für Adains weibliche Bakenalanase beinahe einen Genuss darstellte.
Sie näherte sich vorsichtig. Einem dermaßen großen Wesen gegenüber verspürte selbst sie eine gewisse Ehrfurcht. Durch ein geöffnetes Gitter im zweiten Stockwerk, vielleicht früher eine Art Dachgarten, fiel Sonnenlicht und malte ein pittoreskes Käfigmuster auf den Körper des Gäus.
Was hatte der große Wüstendämon hier gesucht? War er hierhergekommen, um zu sterben? In der Stadt, in der seine kleineren Verwandten aus dem Sand schlüpften? Wollte er wiedergeboren werden, ein Wiederkehrer sein wie Adain? Aber weshalb lebte er dann noch, nach all den Monaten?
Adain besah sich das Dilemma, dann zückte sie Das Schweigen und schnitt dem Großen die verhedderten Fesselungsschnüre durch. Sein Oberkörper sackte danach ein wenig durch, und es sah aus, als sei sein Rückgrat gebrochen. Aber er lebte, der Rauch vor seinem Gesicht wurde dichter. Blind schien er auf Adain und ihre Bewegungen zu lauschen. Also begann sie, mit ihm zu reden. »Ich bin nicht wie ihr. Ich bin einer von jenen, denen ihr nachempfunden seid. Es gab einst einen Gäus, den ich flüchtig kannte. Ihn und Irathindur. Zwei von hunderttausend, die haltlos und körperlos im Strudel umherwirbelten, gebannt durch Orisons Spruch. Aber Orison wusste, was er tat. Dort unten konnten wir immerhin überleben. Und abwarten. Ähnlich wie du. Abwarten, bis jemand kam oder bis etwas überschäumte.« Sie kletterte auf das angewinkelte Knie des erschöpften Gespenstes. Von dort aus hatte sie einen etwas besseren Überblick über das Stachelgestrüpp. »Es sieht so aus, als müsste ich deine Stacheln zurückschneiden, mein Freund. Konntest du sie nicht einfach absprengen wie damals, als ich dich das letzte Mal sah?«
Der Gäus hob leicht den Kopf, schien sich anzuspannen, nichts geschah.
»Verstehe. Es braucht Kraft dazu. Du hast keine mehr. Wovon ernährst du dich? Vom Wind? Es ist der Wind, nicht wahr? Der Wind lässt nicht nur die Häuser singen und die Schiffe der Menschen fahren, sondern er trägt auch die Botschaft von Zegwicu mit sich, seit zwei Jahrhunderten nach Witercarz hinein und seit zwei Jahrhunderten in die alte Orison-Stadt. Und mit der Zeit wandelt sich alles. Witercarz lebt, und hier entsteht Leben. Das Land will leben, und der Wind ist seine Stimme. Dieses Schwert hier, mein Freund, nannte ich ebenfalls Die Stimme . Ist es nicht angemessen, dass ich mit ihm jetzt einige deiner Stacheln durchhaue?«
Sie tat es. Es war verblüffend einfach. Die Stacheln barsten staubend wie ausgehöhltes Horn. Der Gäus ruckte ein wenig, steckte aber immer noch fest.
»Ich hoffe, dass es dir nicht wehtut. Aber ich glaube, nicht. Es ist wie … Fingernagelschneiden bei den Menschen, nicht wahr? Wenn sie zu lang geworden sind, muss man sie kappen. Und wenn du das selbst nicht mehr schaffst, mache ich das eben für dich.« Sie durchschlug vier weitere Stacheln. Der Gäus regte sich etwas mehr. Es war irritierend, dass er nicht stöhnte oder ächzte. Alle Wüstendämonen waren auffallend stumm. Das Wort Stummsturm tauchte in Adains Gedächtnis auf. Es hatte im zweiten und letzten Dämonenkrieg irgendeine untergeordnete Rolle gespielt. Das Stummsein und der Wind in Verbindung.
Sie kletterte an einigen Stacheln empor, von dort auf eine blasig gewordene Mauer. Mit drei trockenen Hieben durchtrennte sie drei weitere Stacheln.
Der Gäus verlagerte sich. Er schnob eine Wolke aus Rosenduft aus.
Adain wurde in diesen öligen Rauch eingehüllt. Es fühlte sich an wie Blut, es fühlte sich nicht an wie Blut. Das Rückgrat des Ungetüms schien sich wieder zusammenzufügen. Der Gäus richtete sich auf seine drei Beine auf und breitete seine sechs Arme aus. Für einen Moment, gegen das Sonnenlicht geblinzelt, sah er aus, als wäre sein Oberkörper eine sich entfaltende schwarzweiße
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