Die Dämonen ruhen nicht
Toilette, um nachzudenken.
Er denkt an den Brief, den er der wunderschönen Scarpetta geschrieben hat. Seiner Ansicht nach hat dieser Brief alles verändert, und Jean-Baptiste malt sich aus, wie sie ihn liest und sich seinem Willen unterwirft.
Heute darf Biest vier Stunden lang Besuch von einem Geistlichen und seinen Angehörigen empfangen. Dann wird er die kurze Fahrt nach Huntsville zur Todeskammer zurücklegen.
Und um achtzehn Uhr abends wird er sterben.
Das ändert eine ganze Menge.
Ein gefalteter Zettel wird lautlos unter der rechten Ecke von Jean-Baptistes Tür durchgeschoben. Er reißt ein Stück Toilettenpapier ab, hebt, wieder ohne seine Hose hochzuziehen, den Zettel auf und kehrt dann zur Toilette zurück.
Biest sitzt fünf Zellen links von ihm entfernt; Jean-Baptiste weiß immer, ob ein Zettel, der von Zelle zu Zelle weitergegeben wird, von Biest stammt. Das gefaltete Papier bekommt eine ganz bestimmte abgeschabte, graue Oberfläche. Innen ist es verschmiert, die Falzstellen sind brüchig vom wiederholten Aufklappen und Zusammenfalten, da jeder Gefangene unterwegs den Brief gelesen hat. Einige Männer haben ihre eigenen Kommentare hinzugefügt.
Jean-Baptiste kauert auf der Edelstahltoilette. Das lange Haar auf seinem Rücken ist vom Schweiß verfilzt, der sein weißes Hemd durchscheinend gemacht hat. Wenn er magnetisiert ist, schwitzt er immer, und er befindet sich in einem magnetischen Dauerzustand, denn seine Elektrizität fließt durch die Metallgegenstände in seiner Zelle, rast durch das Eisen in seinem Blut und strömt wieder aus ihm hinaus, um den nächsten Kreislauf zu beginnen. Immer wieder, wieder und wieder.
»Heute«, schreibt Biest, der im Grunde genommen Analphabet ist, »wist du dich freun, wen sie mich wekbringen. Wist du mich vermißen? Vielleicht nich.«
Zum ersten Mal versucht Biest nicht, ihn zu beleidigen, auch wenn Jean-Baptiste sicher ist, dass die anderen Gefangenen das Kassiber als Verhöhnung verstanden haben.
Er schreibt zurück: »Du brauchst mich nicht zu vermissen, mon ami .«
Biest wird wissen, was Jean-Baptiste damit meint, obwohl er nicht ahnt, was dieser vorhat, um ihn vor seiner Verabredung mit dem Tod zu bewahren. Schritte hallen auf Metall, als Wärter Vorbeigehen. Jean-Baptiste zerreißt Biests Brief in kleine Fetzen und steckt sie in den Mund.
9 3
Offenbar hat sich der Mörder gleich nach dem Parken auf die Frau gestürzt, noch ehe sie den Zündschlüssel abziehen konnte.
Nic nimmt an, dass Handtasche und Geldbörse auf dem
Parkplatz weggeworfen und inzwischen, nach zwei Tagen, bestimmt von jemanden mitgenommen worden sind. Und bei diesem Jemand hat sich offenbar leider die Überzeugung durchgesetzt, dass einem etwas, das man findet, automatisch gehört. Da sämtliche Nachrichtensender über Katherine Bruces Entführung berichten, muss der Finder doch wissen, dass er Beweisstücke in seinem Besitz hat. Allerdings wird ein kläglicher Feigling, der seine moralischen Grundsätze der jeweiligen Situation anpasst, jetzt ganz sicher nicht mehr die Polizei anrufen. Damit würde er nämlich zugeben, dass er Handtasche, Portemonnaie oder beides behalten wollte, bevor sich die Sachen als Eigentum einer Ermordeten entpuppten - vorausgesetzt, dass Katherine tatsächlich ermordet worden ist.
Wenn sie doch noch lebt, dauert es gewiss nicht mehr lange.
Und dann fällt Nic schlagartig ein, dass sich der Finder, falls er die Sachen zurückgeben wollte, sicher bei der allmächtigen Sonderkommission in Baton Rouge gemeldet hat. Und der ist wiederum bestimmt irgendein hirnverbrannter Grund eingefallen, diese Information nicht der Presse und schon gar nicht den Brüdern und Schwestern in Uniform zugänglich zu machen. Nic muss ständig an den Wal-Mart und daran denken, dass sie vielleicht nur wenige Stunden, bevor Katherine Bruce entführt und wahrscheinlich mit dem Wagen zu demselben Versteck gebracht wurde, wo der Mörder all seine Opfer tötete, auf demselben Parkplatz war.
Nic lässt die - wenn auch weit hergeholte - Möglichkeit nicht los, Katherine Bruce könnte im Wal-Mart gewesen sein, während sie selbst dort den Lockvogel spielte, wie sie es seit ihrer Rückkehr aus Knoxville zu den unterschiedlichsten Uhrzeiten tut.
Die Fernsehnachrichten und alle Zeitungen, die Nic in die Hände bekommen hat, bringen ständig Fotos des hübschen blonden Opfers. Sie kann sich nicht erinnern, eine Frau, die ihr nur im Entferntesten ähnlich sah, bemerkt zu haben, als sie
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