Die Dämonen ruhen nicht
Lehrerin.«
Scarpetta antwortet nicht.
»Sehen Sie, das ist meine Stärke.« Er kneift die Augen zusammen, schnippt mit den Wurstfingern und deutet auf ihr Gesicht. »Biologielehrerin ... Die Jugendlichen heutzutage kann man vergessen.« Er nimmt seinen Drink vom Tischchen und klappert mit den Eiswürfeln im Plastikbecher. »Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie Sie das den ganzen Tag aushalten«, spricht er weiter. Offenbar hat er beschlossen, dass sie Lehrerin sein muss. »Außerdem haben die Bälger nicht die geringsten Skrupel, eine Pistole mit in die Schule zu bringen.«
Scarpetta spürt den Blick aus seinen verquollenen Augen auf sich, als sie weiterliest.
»Haben Sie Kinder? Ich habe drei. Alles Teenager. Sie sehen, ich habe geheiratet, als ich zwölf war.« Als er lacht, sprühen Speicheltropfen durch die Luft. »Was halten Sie davon, mir
Ihre Karte zu geben, falls ich in Baton Rouge ein bisschen Nachhilfe brauche? Bleiben Sie dort, oder steigen Sie nur um? Ich wohne in der Innenstadt. Mein Name ist Weldon Winn, mit Doppel-N. Guter Name für einen Politiker, was? Sie können sich die Wahlkampfslogans sicher vorstellen, falls ich mal kandidieren sollte.«
»Wann landen wir?«, will Albert von Scarpetta wissen.
Sie sieht auf die Uhr und zwingt sich zu einem Lächeln, denn der Name Weldon Winn hat ihr einen Schock versetzt. »Es dauert nicht mehr lang«, antwortet sie dem Jungen.
»Ja, Ma’am. Ich sehe schon die Plakate überall in Louisiana. Gewinnen Sie mit Winn. Winn ist der Gewinner. Wenn ich Glück habe, heißt mein Gegenkandidat Wunder. Gewinner brauchen keine Wunder. Wie finden Sie das? Und wenn Mr. Wunder in den Umfrageergebnissen immer weiter nach unten rutscht, wird es heißen, er sei im Wunderland.« Wieder zwinkert er ihr zu.
»Vermutlich besteht keine Chance, dass der Gegenkandidat eine Frau sein könnte«, merkt Scarpetta an, ohne von ihrer Zeitschrift aufzublicken. Sie tut so, als hätte sie keine Ahnung, dass Weldon Winn der für diesen Bezirk von Louisiana zuständige Bundesstaatsanwalt ist, über den Nic Robillard sich bei ihr beklagt hat.
»Verdammt. Eine Frau würde nie wagen, mir Konkurrenz zu machen.«
»Ich verstehe. Was für ein Politiker sind Sie denn?«, fragt Scarpetta ihn schließlich.
»Momentan nur einer im Geiste, hübsches Fräulein. Ich bin der zuständige Bundesstaatsanwalt für Baton Rouge.«
Er macht eine Pause, um ihr Zeit zu geben, die Bedeutung seines Postens zu würdigen. Dann leert er seinen Screwdriver und reckt auf der Suche nach einer Flugbegleiterin den Hals. Als er eine entdeckt, hebt er den Arm und schnippt mit den Fingern.
Es kann kein Zufall sein, dass Weldon Winn neben Scarpetta im Flugzeug sitzt. Schließlich ist sie unterwegs, um bei den Ermittlungen in einem verdächtigen Todesfall zu helfen, der laut Dr. Lanier Weldon Winns Interesse geweckt hat, und kommt gerade von einem Gespräch mit Jean-Baptiste Chandonne.
Scarpetta überlegt, wie Winn die richtige Zeit abgepasst haben könnte, um sie in Houston abzufangen. Möglicherweise war er ja schon dort. Sie hat nicht die geringsten Zweifel daran, dass er weiß, wer sie ist und warum sie in dieser Maschine sitzt.
»Ich habe eine Zweitwohnung in New Orleans, ein gemütliches kleines Nest im French Quarter. Vielleicht besuchen Sie mich mal, wenn Sie in der Gegend sind. Ich werde nur für ein paar Nächte dort sein, weil ich mit dem Gouverneur und ein paar anderen Jungs etwas zu besprechen habe. Natürlich würde ich Ihnen gern persönlich die Hauptstadt zeigen, zum Beispiel das Einschussloch in der Säule, wo Huey Long ermordet wurde.«
Scarpetta weiß alles über den berühmten Anschlag auf Huey Long. Als die Akte in den frühen Neunzigern wieder geöffnet wurde, sind die Ergebnisse der neuen Ermittlungen auf verschiedenen Sitzungen der Akademie für Gerichtsmedizin erörtert worden. Sie hat jetzt genug von dem aufgeblasenen Weldon Winn.
»Zu Ihrer Information«, erwidert sie, »wurde das so genannte Einschussloch in der marmornen Säule nicht von einer gegen Huey Long oder sonst jemanden gerichteten Kugel verursacht; es handelt sich vielmehr um eine Unregelmäßigkeit im Stein oder um eine mit dem Meißel angefertigte Fälschung, die die Touristen anlocken soll. Zudem«, fügt sie hinzu, als Winns Blick kühl wird und sein Lächeln gefriert, »wurde das Capitol nach dem Anschlag renoviert. Die Marmorverkleidung der besagten Säule wurde entfernt und nie mehr an ihren ursprünglichen Ort
Weitere Kostenlose Bücher