Die Dämonen ruhen nicht
zurückgebracht. Es überrascht mich, dassSie so viel Zeit in der Hauptstadt verbringen, ohne das zu wissen.«
»Meine Tante wollte mich abholen. Was mache ich, wenn ich zu spät komme und sie nicht mehr da ist?«, fragt Albert Scarpetta, als würden sie zusammengehören.
Er hat das Interesse an seinen Tauschkarten verloren und sie ordentlich neben einem blauen Mobiltelefon aufgestapelt. »Wissen Sie, wie viel Uhr es ist?«
»Kurz vor sechs«, erwidert Scarpetta. »Wenn du müde bist, schlaf ein bisschen. Ich sage dir Bescheid, wenn wir da sind.«
»Ich bin nicht müde.«
Sie erinnert sich, dass sie ihn am Flugsteig in Houston mit seinen Karten gesehen hat. Weil er neben anderen Erwachsenen saß, hat sie angenommen, dass er in Begleitung ist und dass seine Familie oder die anderen Personen, mit denen er reist, ihre Plätze weiter hinten in der Maschine haben. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass Eltern oder Angehörige ein Kind allein in ein Flugzeug setzen könnten, insbesondere nicht in der heutigen Zeit.
»Da bin ich aber platt. Es gibt nicht viele, die sich so gut mit Einschusslöchern auskennen«, stellt der Staatsanwalt fest, während ihm die Stewardess den nächsten Drink serviert.
»Nein, ganz sicher nicht.« Scarpettas Aufmerksamkeit gilt dem kleinen Jungen neben ihr. »Du bist doch nicht etwa ganz allein?«, erkundigt sie sich. »Hast du denn keine Schule?«
»Wir haben Frühjahrsferien. Onkel Walt hat mich zum Flughafen gefahren, und eine Dame von der Fluggesellschaft hat sich um mich gekümmert. Ich bin nicht müde. Manchmal darf ich lange aufbleiben und mir Filme anschauen. Wir kriegen tausend Sender rein.« Achselzuckend hält er inne. »Tja, vielleicht sind es nicht ganz so viele. Haben Sie Haustiere? Ich hatte einmal einen Hund, der Nestle hieß, weil er so braun wie Schokoflocken war.«
»Also«, beginnt Scarpetta. »Mein Hund hat zwar nicht die
\Farbe von Schokolade, aber er ist eine englische Bulldogge; er ist weiß und braun und hat am Unterkiefer sehr große Zähne. Sein Name ist Billy. Weißt du, was eine englische Bulldogge ist?«
»So etwas wie ein Pitbull?«
»Nein, ganz anders.«
Weldon Winn mischt sich in das Gespräch ein. »Darf ich fragen, wo Sie wohnen, wenn Sie in der Stadt sind?«
»Nestle hat mich vermisst, wenn ich nicht zu Hause war«, sagt Albert wehmütig.
»Das hat er sicher getan«, erwidert Scarpetta. »Bestimmt vermisst Billy mich auch. Aber meine Sekretärin kümmert sich um ihn.«
»Nestle war ein Weibchen.«
»Was ist mit ihr passiert?«
»Ich weiß nicht.«
»Aber, aber, Sie sind vielleicht eine geheimnisvolle junge Dame«, sagt der Bundesstaatsanwalt und starrt sie an.
Scarpetta beugt sich zu ihm hinüber. »Ich habe genug von Ihren Mätzchen«, flüstert sie ihm ins Ohr.
104
Der Learjet gehört dem Heimatschutz, und Benton ist der einzige Passagier an Bord.
Nach der Landung auf dem Flugplatz Louisiana Air in Baton Rouge eilt er die Stufen hinunter. Er hat eine Reisetasche bei sich und sieht ganz und gar nicht aus wie der Benton, den seine Leute früher kannten: Bart, schwarze Baseballkappe mit der Aufschrift »Super Bowl« und getönte Brille. Den schwarzen Anzug hat er von der Stange, und zwar aus dem Kaufhaus Saks, wo er gestern im Laufschritt durch die Herrenabteilung geeilt ist. Die schwarzen Schuhe sind von Prada und haben
Gummisohlen. Der Gürtel ist ebenfalls von Prada; dazu hat Benton ein schwarzes T-Shirt an. Bis auf Schuhe und T-Shirt passen die Sachen alle nicht richtig, aber Benton hat seit Jahren keinen Anzug mehr besessen. In der Umkleidekabine hat er daran gedacht, wie sehr er die weichen neuen Wollstoffe, den Kaschmir und die gebürstete Baumwolle von früher vermisst, damals, als Ärmel und Hosenaufschläge, die gekürzt werden mussten, noch von Schneidern mit Kreide markiert wurden.
Benton fragt sich, wem Scarpetta nach seinem angeblichen Tod wohl seine teuren Sachen gegeben hat. Da er sie gut kennt und weiß, wie begabt sie im Verdrängen ist, vermutet er, dass sie seine Schränke nicht selbst ausgeräumt, sondern jemand anderen damit beauftragt hat. Oder sie hatte Hilfe, bestimmt von Lucy, der es sicher leichter gefallen ist, seine persönliche Habe zu entsorgen, da sie ja wusste, dass er nicht tot war. Allerdings hängt das auch davon ab, wie fähig Lucy als Schauspielerin war oder ob sie Schauspielerei in diesem Moment für angebracht hielt. Schmerz ergreift ihn, als er sich Scarpettas Trauer ausmalt, das
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