Die Dämonen ruhen nicht
fast neunzehn Uhr, und allmählich macht sie sich ernsthaft Sorgen, dass niemand den Jungen abholen wird. Albert greift nach seinem Koffer und weicht Scarpetta nicht von der Seite, als sie ihre Tasche vom Band hebt.
»Offenbar haben Sie einen neuen Freund gefunden.« Plötzlich steht Weldon Winn hinter ihr.
»Komm«, sagt sie zu Albert. Sie gehen durch die automatischen Glastüren. »Bestimmt kommt deine Tante gleich. Wahrscheinlich muss sie im Kreis herumfahren, weil das Parken am Randstein verboten ist.«
Bewaffnete Soldaten in Tarnuniform patrouillieren im Gepäckbereich und draußen auf dem Gehweg. Albert scheint ihre mürrischen Mienen und die Finger an den Abzügen der Sturmgewehre nicht zu bemerken. Sein Gesicht glüht rot.
»Wir beide müssen uns unterhalten, Dr. Scarpetta.« Endlich spricht Staatsanwalt Winn ihren Namen aus und wagt es, ihr den Arm um die Schulter zu legen.
»Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn Sie Ihre Hände wegnehmen würden«, warnt sie ihn leise.
Er zieht den Arm zurück. »Und ich hielte es für eine gute Idee, wenn Sie verstünden, wie es hier bei uns läuft.« Er betrachtet die Autos, die am Straßenrand halten. »Wir werden uns wieder sehen. Sämtliche Informationen, die laufende Ermittlungen betreffen, sind wichtig. Und wenn jemand Zeuge ist...«
»Ich bin kein Zeuge«, fällt sie ihm ins Wort, empört über die Andeutung, er könnte sie auch zur Aussage vorladen, wenn sie nicht freiwillig mit ihm zusammenarbeitet. »Wer hat Ihnen gesagt, dass ich nach Baton Rouge komme?«
Albert fängt an zu weinen.
»Ich will Ihnen mal ein Geheimnis verraten, kleines Fräulein: Hier passiert fast nichts, von dem ich nichts weiß.«
»Mr. Winn«, erwidert sie. »Falls Sie einen gesetzlich legitimierten Grund haben, mit mir zu sprechen, bin ich gern dazu bereit. Allerdings bestehe ich auf ein angemessenes Umfeld - wovon bei einem Gehweg vor einem Flughafengebäude wohl kaum die Rede sein kann.«
»Ich freue mich schon sehr darauf.« Er hebt die Hand und ruft mit einem Fingerschnippen seinen Fahrer herbei.
Scarpetta schultert ihre Tasche und nimmt Alberts Hand. »Keine Angst, das wird schon«, meint sie zu ihm. »Bestimmt ist deine Tante schon unterwegs, und es ist ihr etwas dazwischengekommen. Ich lasse dich nicht allein, einverstanden?«
»Aber ich kenne Sie ja gar nicht. Ich darf nicht mit Fremden irgendwo hingehen«, schluchzt er.
»Wir haben doch nebeneinander im Flugzeug gesessen«, antwortet Scarpetta, während Weldon Winns weiße Limousine mit Langchassis am Straßenrand hält. »Also kennst du mich ein bisschen, und ich verspreche dir, dass ich gut auf dich aufpasse.«
Winn steigt hinten ein, schließt die Tür und verschwindet hinter getönten Scheiben. PKWs und Taxis stoppen, um Fluggäste abzuholen. Kofferraumdeckel springen auf. Menschen umarmen einander. Albert blickt sich aus großen, tränennassen Augen verschüchtert in alle Richtungen um und scheint vor lauter Angst kurz vor einem Weinkrampf zu stehen. Scarpetta spürt, dass Winn sie beobachtet, während die Limousine davonfährt. Ihre Gedanken kullern auseinander wie auf den Boden geworfene Murmeln, und sie hat Schwierigkeiten zu entscheiden, was sie als Nächstes tun soll. Also wählt sie zuerst auf ihrem Mobiltelefon die Nummer der Auskunft und weiß kurz darauf, dass im Telefonbuch von New Orleans kein Weldon Winn und auch sonst niemand mit dem Familiennamen Winn steht, obwohl er doch angeblich eine Wohnung im French Quarter besitzt. In Baton Rouge hat er eine Geheimnummer.
»Eigentlich dürfte mich das nicht wundern«, murmelt sie. Sie kann nur mutmaßen, dass jemand dem Bundesstaatsanwalt von ihrer am frühen Abend bevorstehenden Ankunft erzählt hat. Daraufhin ist Winn offensichtlich nach Houston geflogen und hat dafür gesorgt, dass er in ihrer Anschlussmaschine neben ihr saß.
Zusätzlich zu diesen Besorgnis erregenden und geheimnisvollen Entwicklungen ist sie jetzt auch noch für ein fremdes Kind verantwortlich, das anscheinend von seiner Familie im Stich gelassen worden ist.
»Du kennst doch die Telefonnummer deiner Tante, oder?«, fragt sie Albert. »Komm, wir rufen sie an. Ach, übrigens«, fällt ihr plötzlich ein. »Du hast mir deinen Nachnamen noch nicht verraten.«
»Dard«, erwidert Albert. »Ich habe selber ein Mobiltelefon, aber der Akku ist leer.«
»Verzeihung, wie heißt du mit Nachnamen?«
»Dard.« Er zieht die Schulter hoch und wischt sich daran das Gesicht ab.
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Albert Dard
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