Die Dämonen ruhen nicht
kann sie sich kaum noch erinnern. Er schwang dabei einen Hammer, denselben Eisenhammer, mit dem er schon anderen Frauen Kopf und Körper zerschmettert und sie in formloses Fleisch und zersplitterte Knochen verwandelt hat; insbesondere ihre Gesichter.
Damals war Scarpetta als Chefpathologin für die in Richmond stattfindenden Morde zuständig, und sie hätte nie im Traum daran gedacht, dass sie als Nächste an der Reihe sein könnte. Seitdem sie dem Tod so knapp entronnen ist, kostet es sie unglaublich große Kraft, sich nicht ständig die Zerstörung ihres eigenen Körpers und Gesichts vorzustellen. Er hätte sie nicht vergewaltigt. Dazu ist er gar nicht in der Lage. Jean-Bap- tiste nimmt Rache an der Welt, indem er Tod und Verstümmelung bringt und andere nach seinem eigenen Ebenbild neu erschafft. Er ist das ultimative Sinnbild des Selbsthasses.
Falls es wirklich stimmt, dass sie ihr Leben gerettet hat, indem sie ihm für immer das Augenlicht nahm, ist es eigentlich ein Glück für ihn, dass ihm so der Anblick seines Gesichts in dem Spiegel aus poliertem Metall erspart bleibt, den er jeden Tag in seiner Zelle im Todestrakt ansehen muss.
Scarpetta geht zum Wandschrank im Flur und schiebt den Staubsauger beiseite. Dann holt sie einen Rollenkoffer heraus.
35
»Falls du irgendwas brauchst, ruf mich auf dem Mobiltelefon an«, sagt Nic. Sie steht in der Eingangstür des weißen Ziegelhauses ihres Vaters im Old Garden District, wo die Häuser groß sind und die ausladenden Blätterdächer der Magnolien und Eichen ihre Schatten auf die alteingesessenen Einwohner der Stadt werfen.
Selbst an sonnigen Tagen erscheint Nic ihr Elternhaus dunkel und bedrückend.»Du weißt doch genau, dass ich dich nicht auf diesem neu- modischen kleinen Dingsda anrufe«, erwidert ihr Vater augenzwinkernd. »Dann musst du das Telefonat nämlich auch bezahlen, wenn du gar nicht angerufen hast, richtig? Oder hast du unbegrenzte Kilometer, ich meine Minuten?«
»Was?« Nic runzelt die Stirn und lacht dann auf. »Schon gut. Meine neue Nummer hängt am Kühlschrank, falls du doch anrufen solltest. Wenn ich mich nicht gleich melde, heißt das, dass ich beschäftigt bin. Und du bist brav, Buddy-Boy. Du bist doch mein großer Junge, richtig?«
Ihr fünfjähriger Sohn späht hinter seinem Großvater hervor und schneidet eine Grimasse.
»Erwischt!« Nic tut, als würde sie ihm die Nase klauen, und zwar mit dem alten Trick, der daraus besteht, den Daumen zwischen zwei Finger zu klemmen. »Willst du deine Nase zurück?«
Buddy sieht aus wie ein blonder Chorknabe aus dem Bilderbuch und trägt eine Latzhose, die drei Zentimeter zu kurz ist. Er fasst sich an die Nase und streckt die Zunge heraus.
»Wenn du weiter so die Zunge rausstreckst, passt sie eines Tages nicht mehr in deinen Mund«, warnt sein Großvater.
»Pssst«, protestiert Nic. »Sag so was nicht, Papa. Sonst glaubt er dir noch.«
Sie schaut hinter ihn und schnappt sich ihren Sohn. »Gefangen!« Dann hebt sie ihn hoch und bedeckt sein Gesicht mit Küssen. »Anscheinend müssen wir bald mal einkaufen gehen, junger Mann. Du bist schon wieder aus deinen Sachen rausgewachsen. Wie machst du das bloß immer?«
»Weiß nicht.« Er schlingt ihr fest die Arme um den Hals.
»Hältst du es für machbar, auch mal was anderes anzuziehen als Latzhosen?«, flüstert sie ihm ins Ohr.
Er schüttelt heftig den Kopf. Sie setzt ihn vorsichtig ab. »Warum darf ich nicht mitkommen?«, schmollt Buddy.
»Mama muss arbeiten. Wenn du aufwachst, bin ich wieder da, in Ordnung? Du gehst jetzt ins Bett wie ein großer Junge, und ich bringe dir eine Überraschung mit.«
»Was für eine Überraschung?«
»Wenn ich dir das sagen würde, wäre es keine Überraschung mehr, richtig?« Als Nic ihn noch einmal auf den Scheitel küsst, fährt er sich gereizt durchs Haar, als wolle er Insekten vertreiben. »Hoppla!«, meint sie zu ihrem Vater. »Ich glaube, da wird jemand quengelig.«
Buddy wirft ihr einen gleichzeitig ärgerlichen und gekränkten Blick zu, der in Nic stets das Gefühl auslöst, ihn verraten und im Stich gelassen zu haben. Das geht so, seit ihr Exmann Ricky, ein Vertreter, die lang ersehnte Beförderung bekam und das Zusammenleben mit ihm immer unerträglicher wurde, weil er ständig unterwegs war, sich beklagte und herumnörgelte. Jetzt ist er fort, und Nic ist froh und erleichtert darüber, aber auch tief verletzt auf eine Art und Weise, die sie nicht in Worte fassen kann. Laut Auffassung ihres
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