Die Dämonen ruhen nicht
511. Es ist nicht sein Zimmer. Er hat das Hotel auf einem ähnlichen Weg betreten wie Lucy. Allerdings wollte der Zufall, dass er sich einer Gruppe von Geschäftsleuten anschließen konnte, die gerade vom Abendessen kamen. Zum Glück war er so klug, Anzug und Krawatte zu tragen. Rudy ist ein komischer Kauz. Die früheren Kollegen vom Sonderkommando Geiselbefreiung haben ihn um seinen traumhaft muskulösen Körper beneidet und ihn verdächtigt, Steroide zu nehmen, obwohl er so ein Zeug nie angerührt hat. Lucy würde das wissen, denn Rudy hat zwar seine Fehler, ist aber so ehrlich und aufrichtig, dass sie ihn manchmal als Freundin bezeichnet. Sie weiß bis in die kleinste Einzelheit darüber Bescheid, wie er sich ernährt, welche Vitamine und Nahrungsergänzungsstoffe er schluckt, wie er sich im Training schindet und welche Zeitschriften und Fernsehsendungen er mag. Sie könnte nicht sagen, wann er zuletzt ein Buch gelesen hätte. Außerdem versteht sie, warum er sie im Reifenhaus sexuell belästigt hat, und bedauert inzwischen, ihm die Nase gebrochen zu haben.
»Ich dachte echt, dass du auf mich stehst, ich schwöre«, hat er mit unglaublich kläglicher Miene beteuert. »Wahrscheinlich haben mich das Herumrollen zwischen den Reifen und dasSchießen scharf gemacht. Du warst da, rings um uns hagelte es Geschosshülsen, wir waren beide dreckig und voller Ruß, und du hast so toll ausgesehen, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. Also habe ich dir die Frage gestellt - was ich hätte lassen sollen -, und du hast gesagt, du hättest am liebsten so oft wie möglich Sex. Ich dachte, du meintest mit mir.«
»Sofort hier und jetzt?«, fragte Lucy. »Hast du das wirklich geglaubt?«
»Ja. Ich habe angenommen, du wärst genauso scharf wie ich.«
»Du solltest dir hin und wieder was anderes anschauen als Actionfilme«, entgegnete Lucy. »Walt Disney vielleicht.«
Dieses Gespräch fand in ihrem Zimmer in der FBI-Akademie statt. Sie saßen beide auf ihrem Bett, denn Lucy hat noch nie Angst vor Rudy gehabt. Schließlich war er derjenige mit der genähten Unterlippe und der gebrochenen Nase, die das Können eines plastischen Chirurgen erfordert hatten.
»Außerdem - und ich weiß, dass du das jetzt schwachsinnig finden wirst, Lucy - hatte ich die Sprüche der anderen Jungs satt. Vielleicht wollte ich was beweisen, nämlich, dass du nicht das bist, was sie behaupten.«
»Schon kapiert. Und wenn wir miteinander geschlafen hätten, hättest du anschließend losziehen und allen brühwarm davon berichten können.«
»Nein, so habe ich es nicht gemeint! Ich hätte den anderen nichts erzählt. Es geht sie nämlich gar nichts an.«
»Hmmm. Wie soll ich das jetzt verstehen? Mit Sex im Reifenhaus hättest du den anderen Jungs bewiesen, dass ich doch auf Typen stehe - und das, obwohl sie gar nichts davon gewusst hätten, weil du zu anständig gewesen wärst, um es hinterher herumzuposaunen.«
»Ach, scheiße.« Rudy starrte bedrückt zu Boden. »Ich kann das nicht richtig erklären. Natürlich hätte ich nichts verraten, aber wenn wieder einer gelästert hätte, dass du lesbisch oder frigide bist, hätte ich denjenigen anschauen oder sonst etwas tun können, damit er merkt, dass er keine Ahnung hat.«
»Ich weiß es zu schätzen, dass du nur mein Bestes im Sinn hattest, als du versucht hast, mir die Kleider vom Leib zu reißen und mich zu vergewaltigen«, entgegnete Lucy.
»Ich habe nicht versucht, dich zu vergewaltigen! Mein Gott, benutz doch nicht solche Wörter! Ich dachte, du wärst auch geil. Mist, Lucy. Was verlangst du jetzt von mir?«
»Dass du so was nie wieder probierst. Sonst breche ich dir beim nächsten Mal nämlich mehr als nur die Nase.«
»Einverstanden. Ich lasse in Zukunft die Finger von dir, wenn du nicht den ersten Schritt machst. Oder es dir anders überlegst.«
Rudy hat beim FBI gekündigt und nach einer Weile beim Letzten Revier angeheuert. Er ist ein erstaunlich widersprüchlicher Mensch. Einerseits ist er der große, gut aussehende Muskelprotz, der es nicht schafft, sich auf die jeweilige Frau, in die er angeblich rasend verliebt ist, einzulassen (und soweit Lucy es beurteilen kann, legt er dabei einen erschreckend schlechten Geschmack an den Tag). Andererseits ist er ein ausgesprochen gründlich arbeitender und fähiger Verbrecherjäger und Hubschrauberpilot. Außerdem neigt er weder zum Egoismus noch zur Selbstverliebtheit. Er trinkt nur selten und nimmt niemals Drogen, nicht einmal Aspirin.
»Ein
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