Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See
nicht verraten dürft, weil Gelübde es verbieten.«
»So verhält es sich. Worin also liegt das Problem?«
»Aber ich muss ja die Sitzordnung festlegen! Ihr seid Gäste, noch dazu Kampfgefährten des Herrn Vicomte, also werde ich Euch sowieso näher zum oberen Ende der Tafel setzen … Zu den Baronen. Aber es kann ja nicht sein, dass Ihr alle gleich seid, meine Herren und Damen, denn es kommt niemals vor, dass alle gleich sind. Wenn jemand von Euch nach Rang oder Geburt höher steht, muss ich ihn ans obere Ende der Tafel setzen, zur Fürstin …«
»Er« – der Hexer zeigte ohne zu zögern auf den Vampir, der ein Stück abseits konzentriert einen Gobelin bewunderte, der fast die ganze Wand einnahm –, »er ist ein Graf. Aber kein Wort darüber. Es ist ein Geheimnis.«
»Verstehe.« Der Kämmerer war so beeindruckt, dass er sich beinahe verschluckt hätte. »Unter den gegebenen Umständen … Ich werde ihn zur Rechten der Gräfin Notturna platzieren, der edelgeborenen Tante der Frau Fürstin.«
»Ihr werdet es nicht bereuen, weder Ihr noch die Tante.« Geralts Gesicht war wie von Stein. »Er hat nicht seinesgleichen, weder an Umgangsformen noch in der Kunst der Konversation.«
»Es freut mich, das zu hören. Ihr indes, Herr von Riva, werdet neben der ehrwürdigen Frau Fringilla Platz nehmen. So gebietet es die Tradition. Ihr habt sie zum Bottich getragen, Ihr seid … hmmm … ihr Ritter, sozusagen …«
»Ich verstehe.«
»Das ist gut. Ach, Herr Graf …«
»Wie bitte?«, wunderte sich der Vampir, der gerade von dem Wandteppich zurücktrat, der den Kampf der Riesen mit den Zyklopen darstellte.
»Es ist nichts.« Geralt lächelte. »Wir plaudern nur so.«
»Aha.« Regis nickte. »Ich weiß nicht, ob die Herren es bemerkt haben … Aber dieser Zyklop auf dem Gobelin, da, der mit der Keule … Seht euch seine Zehen an. Er hat, wir wollen es unumwunden sagen, zwei linke Füße.«
»Stimmt«, bestätigte ohne einen Anflug von Verwunderung der Kämmerer Le Goff. »Von solchen Gobelins gibt es viele in Beauclair. Der Meister, der sie gewebt hat, war ein wahrer Meister. Aber er hat schrecklich viel getrunken. Eben ein Künstler.«
»Es wird Zeit für uns«, sagte der Hexer und wich den Blicken aus, die ihm die vom Wein aufgekratzten Mädchen vom Nebentisch her zuwarfen, wo man sich mit Weissagungen vergnügte. »Machen wir uns auf den Weg, Reynart. Lass uns bezahlen, auf die Pferde steigen und nach Beauclair reiten.«
»Ich weiß, wohin du es so eilig hast.« Der Ritter ließ die Zähne blitzen. »Keine Angst, deine Grünäugige wird warten. Es hat eben erst Mitternacht geschlagen. Erzähl von dem Festmahl.«
»Ich erzähle, und wir reiten.«
»Und wir reiten.«
Der Anblick des in Form eines riesigen Hufeisens aufgestellten Tisches gemahnte nachdrücklich daran, dass der Herbst zu Ende ging und der Winter vor der Tür stand. Unter den inSchüsseln und Schalen dargebotenen Speisen dominierte Wildbret in allen möglichen Versionen und Variationen. Es gab große Viertel von Wildschweinen, Hirschkeulen und -rücken, allerlei Pasteten, Aspiks und rosa Fleischscheiben, herbstlich garniert mit Pilzen, Moosbeeren, Pflaumenmus und Weißdornsoße. Es gab Herbstvögel – Birkhühner, Auerhähne und Fasanen, dekorativ mit Flügeln und Schwänzen serviert, es gab gebackene Perlhühner, Wachteln und Rebhühner, Krickenten, Sumpfschnepfen, Haselhühner und Misteldrosseln. Es gab da auch wahre Delikatessen wie Krammetsvögel, unausgenommen im Ganzen gebacken, denn die Wacholderbeeren, mit denen die Innereien dieser kleinen Vögel angefüllt sind, bilden eine natürliche Würze. Es gab auch Lachsforellen aus Bergseen, es gab Zander, Aalquappen und Hechtleber. Einen grünen Akzent setzte Rapunzel, ein spätherbstlicher Salat, den man, wenn nötig, sogar unter dem Schnee ausgraben konnte.
Blumen wurden von Misteln ersetzt.
Mitten auf dem Ehrentische am runden Ende des Hufeisens, an dem Fürstin Anarietta und die bedeutendsten Gäste saßen, stand auf einer großen Silbertafel die Dekoration des Abends. Zwischen Trüffeln, aus Möhren geschnittenen Blumen, halbierten Zitronen und Artischockenherzen ruhte ein riesiger Sterlet, auf seinem Rücken aber stand auf einem Bein ein im ganzen gebratener Reiher, der im erhobenen Schnabel einen goldenen Ring hielt.
»Ich schwöre beim Reiher«, schrie Peyrac-Peyran, der dem Hexer wohlbekannte Baron mit dem Stierkopf im Wappen, der
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