Die Dame vom See - Sapkowski, A: Dame vom See
Lügen und Halbwahrheiten
Das sechste Kapitel
Jarre, was soll man groß sagen, war sehr enttäuscht. Die Erziehung im Tempel und sein eigenes offenes Wesen hatten ihn an die Menschen glauben lassen, an ihre Güte, ihren guten Willen und ihre Uneigennützigkeit. Von diesem Glauben war nicht viel übrig geblieben.
Er hatte schon zwei Nächte im Freien zugebracht, in Resten von Schobern geschlafen, und jetzt sah es ganz danach aus, dass er die dritte Nacht auf solche Weise zubringen würde. In jedem Dorf, in dem er um ein Nachtlager oder ein Stück Brot bat, erntete er hinter fest verschlossenen Fensterläden hervor entweder bleiernes Schweigen oder Beschimpfungen und Drohungen. Es half nichts, wenn er sagte, wer er war, wohin und zu welchem Zweck er unterwegs war.
Sehr, sehr hatten ihn die Menschen enttäuscht.
Es wurde rasch dunkel. Der junge Mann marschierte munter und zügig einen Weg zwischen Feldern entlang. Er hielt nach einem Schober Ausschau, resigniert und niedergeschlagen von der Aussicht auf die nächste Nacht unter freiem Himmel. Der März war freilich ausnehmend warm, doch nachts wurde es richtig kalt. Und richtig unheimlich.
Jarre blickte zum Himmel, wo seit fast einer Woche allnächtlich wie eine rotgoldene Biene ein Komet zu sehen war, der den Himmel von West nach Ost durchmaß und einen flimmerndenFeuerschweif nach sich zog. Er fragte sich, was wohl diese wunderliche, in vielen Prophezeiungen erwähnte Erscheinung in Wahrheit ankündigen mochte.
Er marschierte weiter. Es wurde immer dunkler. Der Pfad führte bergab, in ein Spalier dichter Sträucher, die im Halbdunkel bedrohliche Gestalten annahmen. Von unten, daher, wo es noch dunkler war, wehte ein kalter, hässlicher Geruch nach verrottendem Unkraut und noch etwas anderem heran. Etwas sehr Ungutem.
Jarre blieb stehen. Er versuchte, sich einzureden, das, was ihm über den Rücken lief, sei keine Angst, sondern die Kälte. Es gelang ihm nicht.
Die von Busch- und Krüppelweiden bestandenen Ufer des Kanals, der schwarz war und glänzte wie frisch gegossener Teer, verband eine niedrige Brücke. An den Stellen, wo die Bohlen durchgefault und eingebrochen waren, gähnten längliche Löcher, das Geländer war zerbrochen, seine Balken ragten ins Wasser. Hinter der Brücke wuchsen die Weiden dichter. Obwohl es noch längst nicht vollends Nacht war, obwohl die abgelegenen Wiesen hinter dem Kanal immer noch vom Nebelgespinst hell waren, das auf den Spitzen der Gräser hing, herrschte zwischen den Weiden Dunkelheit. Dort sah Jarre undeutlich die Ruinen eines Gebäudes – sicherlich einer Mühle, einer Schleuse oder einer Aalhame.
Ich muss über diese Brücke gehen, dachte der Bursche. Was hilft’s! Obwohl ich spüre, dass dort, in dieser Finsternis, etwas Ungutes lauert, muss ich auf die andere Seite dieses Kanals gehen. Ich muss diesen Kanal überqueren, wie das dieser mythische Anführer oder Held tat, von dem ich in den vergilbten Manuskripten im Tempel der Melitele gelesen habe. Ich werde den Kanal überqueren, und dann … Wie war das? Die Karten sind verteilt? Nein, die Würfel sind gefallen. Hinter mir bleibt meine Vergangenheit, vor mir erstreckt sich meine Zukunft …
Er trat auf die Brücke und wusste augenblicklich, dass ihn dieVorahnung nicht getäuscht hatte. Noch ehe er sie sah. Und hörte.
»Und?«, sagte mit belegter Stimme einer von denen, die ihm den Weg vertraten. »Hab ich’s nicht gesagt? Ich hab gesagt, wenn wir’n bissel warten, kommt schon wer.«
»Wahrlich, Okultich.« Der zweite von den mit dicken Knüppeln bewaffneten Typen lispelte leicht. »Dich könnte man fürwahr zum Wahrsager oder Propheten machen. Alsdann, lieber einsamer Passant, gibst du im Guten her, was du hast, oder wird es nicht ohne Kratzer abgehen?«
»Ich habe nichts!«, schrie Jarre, was die Lunge hergab, obwohl er wenig Hoffnung hatte, dass ihn jemand hören und zu Hilfe eilen würde. »Ich bin ein armer Wanderer! Ich habe keinen roten Heller! Was soll ich euch geben? Diesen Stab? Meine Sachen?«
»Die auch«, sagte der Lispelnde, und in seiner Stimme klang etwas, das Jarre erzittern ließ. »Denn du musst wissen, armer Wanderer, dass wir wahrlich hier, dieweil es uns ein dringendes Bedürfnis ist, nach einer gewissen Dirne ausgeschaut haben. Indes, die Nacht steht vor der Tür, es wird niemand mehr kommen, und in der allergrößten Not frisst der Teufel Fliegen! Greift ihn euch, Jungs!«
»Ich habe ein Messer!«, schrie Jarre. »Ich warne
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