Die Darwin-Kinder
Damen wegen der Frage, ob man die Grabesruhe verletzen darf, in die Haare geraten. Die ganze gottverdammte Menschheit ist so entsetzlich primitiv.«
Mitch riss seine Bierdose auf und nahm einen tiefen Schluck.
Das Bier schmeckte wegen der großen Menge an Kohlensäure zwar fast nach gar nichts, tat ihm aber trotzdem ausgesprochen gut. Nachdem er die Dose abgestellt hatte, griff er nach einer Scheibe Käse und machte sich mit viel Getue daran, die Umhüllung abzustreifen. Eileen sah zu, wie er die Scheibe in die Höhe hielt, auf drei Fingern kreisen ließ, mit den Zähnen die Zwischenlage aus Papier vorsichtig anhob und entfernte.
»Leg sie frei«, sagte er, während er sie aus zusammengekniffenen Augen ansah und eine seiner buschigen Augenbrauen hochzog.
»Ist das dein Ernst?«
»Gib mir die Möglichkeit, sie auf die altmodische Art freizulegen. Ich würde sie mir lieber mit eigenen Augen ansehen als darauf zu vertrauen, dass die Nachwelt besser mit ihnen umgeht. Aber das ist nur meine ganz persönliche Meinung.« Aufgrund der Kombination von Bier und Erschöpfung geriet Mitch ins Philosophieren. »Hol sie ans Licht, schenk ihnen die Wiedergeburt. Die Indianer hatten Recht: Dies ist ein heiliger Moment, der eigentlich gewisse Zeremonien erfordert. Wir sollten ihre gepeinigten Seelen besänftigen – und unsere eigenen dazu. Was Oliver gesagt hat, stimmt: Sie sind hier, um uns eine Lektion zu erteilen.«
Eileen rümpfte die Nase. »Manche Indianer sehen es gar nicht gern, wenn man ihre Theorien widerlegt. Sie würden lieber mit Märchen leben.«
»Die Indianer in Kumash haben uns Unterschlupf gewährt, als Kaye schwanger war. Sie weigern sich immer noch, dem Krisenstab ihre SHEVA-Kinder auszuliefern. Mittlerweile habe ich größeres Verständnis für all die Menschen entwickelt, die von der amerikanischen Regierung wieder und wieder belogen wurden.« Mitch hob sein Bier in die Höhe: »Auf die Indianer.«
Eileen schüttelte den Kopf. »Ignoranz ist und bleibt Ignoranz.
Wir können es uns nicht leisten, an den naiven Vorstellungen unserer Kindheit festzuhalten. Wir sind jetzt große Jungs und Mädels.«
Vor allem Mädels, dachte Mitch. »Neigen Anthropologen denn eher dazu, das zu erkennen, was sie vor der Nase haben?«
Eileen spitzte den Mund. »Also gut – nein. Wir haben im Lager schon zwei, die hartnäckig behaupten, es könne sich bei unseren Funden unmöglich um den Homo erectus handeln.
Während wir uns hier unterhalten, sind sie bereits dabei, eine große, plumpe Abart des Homo sapiens mit buschigen Brauen auf ihren Laptops zu konstruieren. Wir tun uns teuflisch schwer damit, sie davon zu überzeugen, dass sie die Klappe halten sollen. Zicken, die keine Ahnung haben, alle beide.
Aber verrat bloß niemandem, dass ich das gesagt hab.«
»Ich werde schweigen wie ein Grab.«
Eileen hatte es derweil geschafft, ein Sandwich mit Frühstücksfleisch und Käsescheiben zu belegen. Aus den zusammengedrückten Brotscheiben ragten zwei Selleriestangen wie gekrümmte Mittelhandknochen hervor.
Bedächtig biss sie von einer Ecke ab und kaute nachdenklich vor sich hin.
Mitch war zwar nicht sonderlich hungrig, wollte aber auch nicht auf das Essen verzichten. Bei früheren Ausgrabungen hatte er schon sehr viel schlechter gespeist, einschließlich der Mahlzeit aus gerösteten Maden auf Toast.
»War es wie bei SHEVA?«, sinnierte Eileen. »Ein enormer Sprung vom Homo erectus zum Homo sapiens?«
»Glaub ich nicht. Selbst für SHEVA wäre das ein bisschen zu drastisch.«
Eileens nachdenklicher Blick wanderte von der raschelnden Plastiküberdachung weiter nach oben. »Männer«, sagte sie.
»Männer, die Schlimmes getan haben.«
»Oh – oh, jetzt kommt’s«, warf Mitch ein.
»Männer, die andere Stämme überfallen, Gefangene machen, nicht besonders wählerisch sind. Sie treiben alle Frauen zusammen, die mit geeigneten Körperöffnungen ausgestattet sind. Nur Frauen, egal, zu wem sie gehören, egal, wer oder was diese Frauen sind.«
»Du glaubst, die nicht präsenten Männer hätten andere Stämme überfallen und die Frauen vergewaltigt?«
»Würdest du eine Beziehung mit einer Homo erectus- Frau
anfangen? Ich meine, wenn du wählen könntest und nicht ganz unten in der sozialen Hierarchie stehen würdest?«
Mitch dachte an die Mutter in der Höhle, die er – in einem anderen Leben – in den Alpen entdeckt hatte. Und an ihren Mann, der zu ihr gehalten hatte. »Vielleicht gingen sie ja doch liebevoller
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