Die Darwin-Kinder
Wie von selbst ergab es sich, dass alle zusammen stöhnten. Das Seufzen mit Ober- und Unterstimmen fügte sich zu einem Lied zusammen, das Anteilnahme und einen Willkommensgruß ausdrückte.
Mit einer heftigen letzten Presswehe bahnte Stella ihrem Sohn den Weg in die große weite Welt. Während die Frauen das Kind musterten, wurde ihr Gesang leiser und verwandelte sich schließlich in entzücktes Gurren und Gekicher.
Gemeinsam legten Jewgenia und Kaye Stella das Baby auf den Bauch. »Jetzt bist du tatsächlich Großmutter geworden«, sagte Jewgenia lächelnd.
Als die Nachgeburt kam, drängte Juri die Frauen hastig zur Seite, um den Mutterkuchen in einer mit Plastik verkleideten Stahlschüssel aufzufangen. Zu Kayes Erstaunen bestand Juri darauf, selbst die Nabelschnur zu durchtrennen und die Plazenta sofort in Plastik zu hüllen und zu entfernen. Mit einem in Bleichmittel getauchten Schwamm wischte er alles Blut ab, brachte Schüsseln mit Seifenlauge herein und bestand darauf, dass sich alle Helferinnen die Hände schrubbten.
Danach wusch er Stella von Kopf bis Fuß ab. »Es könnte gefährlich sein, rührt das hier nicht an«, sagte er mit Nachdruck und nahm die Nachgeburt mit hinaus.
Kaye vergaß für den Augenblick alle kritischen Überlegungen und Sorgen, umarmte ihre Tochter, die Frauen des Dems, Mitch und auch den jungen Mann, der als Ersatz für Will der Geburt beigewohnt hatte und angesichts dieser ungewohnten Rolle befremdet und verwirrt wirkte.
Auf der Suche nach der mütterlichen Brust wand sich das winzige, runzlige Baby langsam in Stellas Armen. Und dann sah es zu ihnen allen empor, zog die Lider so weit zurück, bis sein Gesicht nur noch aus weit aufgerissenen, lebhaften, konzentrierten Augen zu bestehen schien. Gleichzeitig flammten seine Wangen in Gold- und Rosatönen auf, die sofort wechselnde symmetrische Muster von Blütenblättern bildeten.
Alle im Zimmer mit Ausnahme von Kaye und Mitch antworteten dem Neugeborenen mit auflodernden Wangen und leuchtenden Tupfen, die dieselben Farben und Muster, Blüten und Schmetterlinge, bildeten. Das Baby konnte es sehen und bei ihnen Freude und Entzücken riechen. Während es an der mütterlichen Brust saugte, lächelte es mit hingebungsvoller Ruhe und Selbstsicherheit.
Dieses Lächeln nahm Kaye den Atem, sie drückte Mitchs Hand. Aber selbst in dieser Situation war Mitch durch und durch Anthropologe: Mit forschendem Blick beobachtete er das Dem, die Nebenmütter und alle im Zimmer versammelten Sheviten.
»Habt ihr schon einen Namen für ihn ausgesucht?«, fragte Kaye Stella.
Stella schüttelte gedankenverloren den Kopf. »Lass uns noch ein bisschen Zeit. Es soll ein schöner Name sein.«
Beim Säugen ihres Sohnes entspannte sich Stella und schlief kurz darauf ein, aber auf ihren Wangen leuchteten weiter Muster auf. Selbst im Schlaf konnte die junge Mutter dem Baby ihre Liebe zeigen.
Als sich das Baby von der Mutterbrust löste, sah es Mitch an und sagte deutlich vernehmbar: »Sing.«
Das ganze Dem lachte. Überwältigt von seinen Gefühlen, fiel Wills Ersatzmann Stellas Eltern um den Hals und schüttelte Mitch die Hand. Während Kaye ihre Hand auf seine Schulter legte und ihm zulächelte, kniete sich Mitch neben das Bett und stimmte das ABC-Lied an, das er früher auch Stella vorgesungen hatte: »Ah, Beh, Ceh, Deh, Eh, Eff, Geeh – Hah, Ih-Jott, Ka, Ell-Emm, Enn, Oh, Peh…«
Mitchs Enkel entspannte sich und saugte gleich wieder an Stellas Brust. Schließlich wurden seine Lider so schwer, dass er die großen, mit Purpur gesprenkelten Augen schloss. Noch ehe Mitch beim Weh angekommen war, schlief er so fest wie seine Mutter.
Epilog
SHEVA 2 + 1 Lone Pine, Kalifornien
Kaye versuchte ihre Lippen zu bewegen. Welch wunderbare Gedanken – so einfach, so klar. Hätte sie doch nur mit ihrem Mann sprechen können.
Mit zusammengezogenen Brauen musterte Mitch die Lampe auf dem Tisch. Außer dem steten Atem seiner Frau und dem Summen des medizinischen Überwachungsgerätes war im Zimmer kaum etwas zu vernehmen. Als sich der Rhythmus ihrer Atmung veränderte, wandte er den Kopf und sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Er beugte sich vor und fragte sich, ob sie wieder zu Bewusstsein kam, aber ihre Augen starrten ins Leere und blinzelten nur einmal kurz, während er sie beobachtete.
Dass sich ihre Lippen dennoch bewegten, tat weh, so wie alle Hoffnungen auf irgendeine Besserung. In letzter Zeit waren bei Kaye die Phasen völliger Lähmung immer
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