Die Darwin-Kinder
fauler Zauber oder eine neue Herangehensweise war. Sie würde es bald herausfinden. Inzwischen waren zwölf Frauen in Oldstock schwanger, und Stella kam eine sehr wichtige Rolle zu.
Erinnere dich immer wieder daran. Sei stolz darauf. Zeige Mut. Oh Gott.
Sie waren dabei, so vieles zu lernen, Antworten auf so viele Fragen zu finden. Aber warum muss es ausgerechnet meine Tochter sein? Warum jemand, dessen Tod auch meinen Tod bedeuten würde, wenn nicht den körperlichen, so doch den seelischen?
Die letzten beiden Monate waren die glücklichsten in Kayes Leben gewesen und gleichzeitig die angespanntesten und schwierigsten.
Vorsichtig stiegen sie die schneebedeckten Stufen zur alten Krankenstation hinauf und gingen über die Linoleumböden und durch den frisch verputzten Gang, den weißliche Glühbirnen spärlich beleuchteten, in den kleinen Kreißsaal hinüber.
Stella saß keuchend und hechelnd auf der schrägen gepolsterten Bank. Eine rostige Rollbahre, auf der eine mit sauberen weißen Laken überzogene Schaumstoffmatratze lag, wartete auf sie, falls sie schlafen wollte. Sie spürte gerade eine Wehe kommen und biss die Zähne zusammen.
Kaye machte sich daran, die medizinischen Instrumente zu richten, nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sie lange genug in dem alten Sterilisationsapparat gelegen hatten.
»Wo haben Sie diese Antiquitäten her?«, fragte sie Juri Sakartvelo, als er hereinkam und die Hände, noch nass vom Schrubben, zum Trocknen in die Luft streckte. Jewgenia bedachte Kaye mit einem Lächeln. Während sie Juri die Handschuhe überstreifte, nahmen ihre runzligen Wangen einen gold-grünen Farbton an.
»Wir können nur hoffen, dass sie hier nichts zu tun bekommen«, flüsterte Kaye Mitch grimmig zu.
»Sch, immerhin sind sie Ärzte.«
»Aus Russland, Mitch. Wie lange mag es her sein, dass sie mehr tun mussten als ein gebrochenes Bein zu schienen oder eine Wunde zu verbinden?«
Stellas Entbindung zog sich in die Länge. Das hatte sich gegenüber früher kaum verändert: Babys mit großen Köpfen erschwerten die Geburt. Als Mitch nach mehr als elf Stunden ein Nickerchen machte, ging Kaye kurz Luft schnappen. Sie blieb vor der Krankenstation stehen, sog die kühle Morgenluft ein und betrachtete den Schnee.
Während Kaye in der Dorfschule unterrichtete, hatte Mitch den Sheviten dabei geholfen, ein kleines Sägewerk wieder herzurichten, alte Betonfundamente von Schutt zu befreien und mit dem Bau neuer Häuser für die Familien zu beginnen.
Es war noch nicht klar, welche Form diese Familien annehmen würden – in dieser Hinsicht waren die Sakartvelos ähnlich ahnungslos wie Kaye und Mitch –, doch vermutlich würden sie nicht nur aus Vater, Mutter und Kindern bestehen.
Noch nie hatten so viele Sheviten an einem Ort zusammengelebt. Allerdings erzählten manche, es gebe noch größere Gemeinschaften im Osten und Süden, möglicherweise in New Jersey, Georgia oder Mississippi, die sich im Verborgenen hielten.
Derzeit waren die jungen Sheviten damit beschäftigt, Pläne für die Häuser zu entwerfen. Sie fühlten sich nicht wohl, wenn sie mehr als ein paar Stunden auf die Gesellschaft anderer verzichten mussten. Dass sie sich nach so vielen Jahren in engen Unterkünften oder sogar Zellen große Fenster wünschten, konnte Kaye gut verstehen. Allerdings hatten sie bisher noch keine Doppelglasfenster besorgen können und in Oldstock musste man mit kalten Wintern rechnen. Obwohl die vorgefundenen Fundamente ihrer Fantasie gewisse Zügel anlegten, sahen manche der gezeichneten Baupläne wirklich sehr seltsam aus: Badezimmer und Toiletten ohne Abtrennungen oder Wände – »Wozu sollten wir einen Privatsphäre brauchen? Wir wissen doch, was da passiert!« –
und schmale ,Duftschächte’, die angrenzende Häuser miteinander verbanden. Die Vorstellung irgendeiner Form von Privatsphäre schien ihnen völlig fremd zu sein.
Die schönsten Momente verbrachte Kaye mit Stella, Mitch und dem Dem, zu dem ihre Tochter gehörte. Die meisten Schülerinnen und Schüler in Kayes Klasse gehörten zu dieser Gruppe. Stellas Neugier und ihr recht unkomplizierter Umgang mit den menschlichen Eindringlingen, die ihre Eltern waren, hatte offenbar auch auf diejenigen abgefärbt, die ihr am nächsten standen. Und so hatte diese erweiterte Familie Kaye und Mitch adoptiert.
Im Gegensatz dazu behandelten die Sakartvelos Kaye und Mitch zwar durchaus höflich, verkehrten aber nur selten privat mit ihnen. Selbst im Umgang
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