Die Darwin-Kinder
trüben Himmel blickte, konnte er nichts entdecken. Fast hätte sein Herzschlag ausgesetzt, als er merkte, dass sein Handy immer noch betriebsbereit war. Er griff in seine linke Tasche und schaltete es aus.
Ein Kiesweg führte von der hinteren Veranda zu einem lang gestreckten Anbau aus Holz hinter dem Haus. Er vermied den Weg, weil seine Schuhe dort knirschen würden, und ging stattdessen auf dem weichen Rand des Rasens entlang.
Schließlich ließ er das Gras, das hier nur noch büschelweise wuchs und verdorrt war, hinter sich und trat auf die betonierte Eingangsrampe zum Anbau. Er spähte durch das kleine quadratische Fenster, das in die Stahltür eingelassen war.
Warum eine Stahltür? Dazu auch noch nagelneu.
Im Raum jenseits des kleinen Fensters sah er eine schwere, mit Maschendraht verstärkte Eingangstür. Lautlos probierte er die Türklinke aus. Selbstverständlich war abgesperrt. Als er ein paar Schritte zurücktrat, blieb er mit dem Absatz in einer Bodenkuhle hängen, brachte sich mit einem Sprung wieder ins Gleichgewicht und hastete gleich darauf um die Ecke. Der Sheriff konnte jeden Augenblick da sein. Mitch wollte Stella lieber ohne offizielle Unterstützung herausholen. Außerdem wusste er, dass Kaye nicht viel länger durchhalten würde. Er musste so schnell wie möglich herauskriegen, wo sich Stella befand, und danach entscheiden, was als Nächstes zu tun war.
Mitch war nie jemand gewesen, der zu schnellen Entscheidungen neigte. Dazu hatte er zu viele Jahre damit zugebracht, mit Engelsgeduld in dicken Erdschichten zu buddeln, um Jahrtausende schweigender, ungeschriebener Geschichte ans Tageslicht zu holen. Der innere Frieden, den er bei solchen Ausgrabungen gefunden hatte, hatte sein Leben nicht auf Dauer bestimmen können, wie sich inzwischen herausgestellt hatte. Er hatte den inneren Frieden aus seinem Leben verbannt, genau wie die Ausgrabungen, die Geschichte und fast alles, was bis dahin sein Leben ausgemacht hatte. An seine Stelle waren verzweifelte Wut und der Wille zu beschützen getreten.
20
Leesburg
Als der Mann und die Frau in dem alten Laster vorfuhren, biss sich Mark Augustine auf die Lippen. Nach anfänglich verschwommenen Bildern vermittelte ihnen Kleiner Vogel jetzt auf einen Schlag eine Serie deutlicher Standfotos, die als blau umrandete Ausschnitte auf den großen Bildschirmen erschienen.
Auf dem hintersten Bildschirm tauchten zwei Namen auf.
Das Abgleichen der Gesichter hatte eine Identifizierung ermöglicht, auf die Augustine längst nicht mehr angewiesen war. Der Mann, der um das Haus schlich, war Mitch Rafelson.
Die Frau im Laster war Kaye Lang Rafelson.
»Gut«, sagte Browning. »Jetzt ist die ganze Bande versammelt.« Sie sah zu Augustine empor.
»Der Strafvollzug ist wohl kaum als exakte Wissenschaft zu bezeichnen«, bemerkte er mit verkniffenem Mund. »Wo sind die Transporter?«
»Etwa zwei Minuten entfernt«, erwiderte Browning. Wieder einmal hatte sie alles perfekt im Griff und strotzte vor Selbstvertrauen.
21
Spotsylvania County
Kaye hörte Motorengeräusche. Als sie über die Hecke zur Straße blickte, entdeckte sie zwei blau-weiße Streifenwagen der Landespolizei von Virginia, die auf das Haus zufuhren, während sich aus der anderen Richtung – ohne dass Blaulicht oder Sirenen eingeschaltet waren – ein unförmiges weißes Behördenfahrzeug näherte, das wie eine Kreuzung aus Gefangenentransporter und Krankenwagen aussah. Das rot-goldene Schild des Krisenstabs konnte sie von ihrem Standort aus nicht erkennen, aber sie war sicher, dass es an der Seite prangen musste.
Während die Streifenwagen das Tempo drosselten und vor dem Transporter abbremsten, um abzuwarten, wer zuerst in die Privatstraße abbiegen würde, rührte sie sich nicht von der Stelle.
»Schnüffeln Sie hier nicht herum!«, sagte die Alte. »Sind Sie von den Gaswerken?« Sie war mehr als zehn Meter entfernt.
Vor dem Licht, das aus der Hintertür drang, war sie nur als Umriss mit Kräuselfrisur zu erkennen. Während Mitch hinten um den lang gestreckten Anbau herumgegangen war, hatte sie sich fast lautlos aus dem Haus geschlichen. Sie hielt ein Gewehr in den Händen.
Mitch wandte sich um, sodass er die Hintertür des Hauses vor sich hatte, und musterte die rechte Seite des Anbaus. Er war einmal um das ganze Gebäude herumgegangen, hatte aber keinen weiteren Eingang entdecken können.
»Machen Sie keine Dummheiten«, rief er, um einen freundlichen Ton bemüht. »Ich suche nach
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