Die dem Mond ins Netz gegangen - Lene Beckers zweiter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
gegangen, als sie aus reiner Neugier auf die Klinke gedrückt hatte und plötzlich – wie jetzt - im dunklen Vorraum der Kirche stand. Église de Taur . Kirche des Stiers. Beim Eintreten in das ebenfalls fast düstere Gotteshaus wurde der Blick sofort auf die dunkle Madonna gezogen, die mit ihrem Kind ihre Liebe in das Kirchenschiff auszustrahlen schien. Eine Kirche, die Lene andächtig machte. Mehr als andere, vielleicht prächtigere.
Ein hochgewachsener, schlanker Mann kam auf sie zu. Père Jean Bapti ste. Sie hatten sich mit ihm telefonisch verabredet und er erwartete sie schon, die Hände unter der Soutane gefaltet. Ein ernstes Gesicht, aristokratisch, wie das einer griechischen Skulptur. Das dunkle Haar betonte die dunklen Augen, deren Farbe im Dämmerlicht der Kirche kaum auszumachen war.
Er begrüßte sie und führte sie in die Sakristei. Alte geschnitzte Schränke, gepolsterte mit burgunderrotem Samt bezogene Stühle, daneben ein Gebetstuhl für einsame Gespräche mit Gott. Ein Altargewand hing an einer der Schranktüren.
» Kennen Sie unsere Kirche schon? Oder ihre Geschichte?«, fragte er sie und nahm damit die Richtung des Gesprächs in die Hand. Ein wohlüberlegter Mann, dachte Lene, der weiß, was er will. Bereitwillig gingen Luc und sie auf seine Strategie ein.
» Die Geschichte des ersten christlichen Bischofs aus dem zweiten Jahrhundert, der in der Zeit der Christenverfolgung zum Tode durch einen Stier verurteilt worden war. Man band ihn an dessen Schwanz und jagte das Tier dann durch die Straßen der Stadt. Hier, an diesem Platz, löste sich die Leiche von dem Stier und hier baute man zum Gedenken an Bischof Saturnin und zur Aufbewahrung seiner Reliquien diese Kirche.«
» Ich dachte, die Reliquien von Saint Saturnin liegen in der Basilika Saint-Sernin?«, warf Luc ein.
» Ja, aber erst seit 420 n.Chr. Inzwischen war der Bischof heilig gesprochen worden. Man baute die Basilika für ihn an dem Platz, an dem die Schleifung durch den Stier begonnen hatte. Saint Sernin ist nur eine Veränderung des Namens Saint Saturnin. Im 14. Jahrhundert wurde dann diese Kirche auf der anderen gebaut. Wenn Sie nachher in die Kirche zurückgehen, sehen Sie sich doch noch die malerische Darstellung seines Martyriums an. Die Darstellungen sind wirklich gut, sie stammen von Bénézet, wenn sie auch nur aus dem 19. Jahrhundert stammen.«
» Und die Madonna? Sie ist so wunderschön.«
Lene hatte sich vorgebeugt, fasziniert von der Geschichte, die ihr so noch niemand erzählt hatte.
»Sie hat unserer Kirche den Namen Notre-Dame du Taur gegeben. Sie hat mehrere Namen, Notre-Dame von Rempart oder Der Erlösung oder Die Hilfreiche . Übrigens – da der ost-westliche Jacobsweg hier durch Toulouse führte, haben wir auch eine beeindruckende Lebensgeschichte von Sankt Jacob hier, aus dem 14. Jahrhundert. In achtunddreißg Darstellungen.«
Aus sei ner Stimme hatte eine Form von frommem Stolz gesprochen, Lene fand in ihren Gedanken keine andere Formulierung. Als ob er sich so mit der Kirche, sowohl mit der römisch-katholischen in Rom als auch mit der Église de Taur verbunden fühlte, dass alles, was dazugehörte, sein Leben ausmachte. Lene sah seine Begeisterung in den Augen, er hatte etwas unendlich Anziehendes, Überzeugendes an sich. Ein charismatischer Mann, der sicher viele ältere Damen zum täglichen morgendlichen Gottesdienst in die Kirche lockte.
Luc griff nun fest nach den Zügeln der Gesprächsführung, nahm sie dem anderen gleichsam aus der Hand.
» Aber nun zu uns. Und unserem Anliegen. Haben Sie schon von dem Mord an der deutschen Urlauberin Brigitte Melzer gehört?«
Als Père Jean Baptiste nickte, fuhr er fort.
»Wir wiederum haben von Monsieur Jean-Pierre Malineau gehört, dass er Ihnen von dem Fund unseres Mordopfers erzählt hat und Ihnen eine Zeichnung gezeigt hat. Erst einmal, woher kennen Sie Jean-Pierre Malineau und wie entstand sein doch sehr großes Vertrauen zu Ihnen?«
Die langen schmalen Hände des Priesters hu schten kurz über die Soutane.
» Jean-Pierre und ich kennen uns schon lange. Ich war sein Dozent und Mentor, als er noch Priester werden wollte. Hat er Ihnen das nicht erzählt?«
» Nein, aber wir wissen von seinem Theologiestudium. Warum hat er es abgebrochen?«
Lene beobachtete das Gesicht ihres Gegenübers. Sein Blick wurde leicht unruhig. Seitdem sie ihn gesehen hatte, vermutete sie, dass er die große Liebe Jean-Pierres war. Und etwas in seiner Reaktion schien das jetzt
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