Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
hätte lieber noch einen Jungen, aber ich würde gern eine Tochter haben! Hier, kannste den auch noch nehmen?«
Dille wuchtete einen zweiten Karton in meine Arme. Küchenzeugs hatte einer der beiden mit einem Edding draufgeschrieben. Dille und Petra waren nicht die Typen, die wertvolles Filzstiftmaterial an ein Wort wie Utensilien oder kostbare Denksekunden an die deutsche Grammatik verschwendeten. Ich trug die beiden Kartons das Treppenhaus hinunter.
Das Ehepaar Kasinski hatte sich angesichts des zu erwartenden Familienzuwachses eine größere Wohnung gemietet, nicht allzu weit von ihrer alten entfernt. Eine hübsche Souterrain-Behausung in Wandsbek. Mit Terrasse! 72 Quadratmeter! Wir anderen Kirschkernspucker fanden das alle dekadent groß. Doch Dille konnte es sich leisten. Schließlich war er gerade, trotz seiner erst zarten 21 Jahre, zum stellvertretenden Bolle -Filialleiter aufgestiegen, was uns selbst dann noch beeindruckte, als Dille uns erklärte, dass der ganze Supermarkt ohnehin nur sieben Ganzzeitangestellte habe. Von denen sei einer ein Idiot, zwei andere faule Säcke, eine gerade schwanger und die andere chronisch krank. Dille war somit neben dem Filialleiter der Einzige, dem man überhaupt zutrauen durfte, über Monate hinweg jeden Morgen pünktlich zu erscheinen, um die Tür aufzuschließen.
Als wir mit dem von Bolle ausgeliehenen VW-Bus die nächste Fuhre Kartons in die neue Wohnung schafften, sah ich Sven, der gerade zwei Holzböcke in einem der Räume aufgebaut hatte und einen dicken Holzbalken auf ihnen zersägte. Sven hatte Dille und Petra versprochen, dem kleinen Jan ein Hochbett zu bauen. Seine Lehrjahre als Tischler waren längst zu Ende, doch den Sprung ins Theater hatte er nicht geschafft. Er bewarb sich zwar regelmäßig bei den verschiedensten Häusern, doch bislang hatte es nur Absagen gegeben. Also hing er immer noch in seinem Ausbildungsbetrieb fest und zog Dachbalken in Neubauten, anstatt Bernada Albas Haus auf der Bühne nachzubauen.
»Hi!«, lächelte Sven mich unsicher an.
»Tach«, knurrte ich. Nicht besonders freundlich, wie ich zugeben muss. Aber Sven machte mich wütend. Um es mal vorsichtig auszudrücken. Seit acht Monaten war ich schon mit Susann zusammen, und sie verbrachte immer noch ebenso viel Zeit mit der Graumaus Sven wie mit mir. Wenn nicht sogar mehr! Da stimmte doch was nicht, oder? Was bildete der Kerl sich ein? Ich würde ja seine Freundin auch nicht mit Beschlag belegen – wenn er denn eine hätte. Aber Sven war immer noch Single. Wie sollte er auch ein Weibchen finden, wenn er ständig an meinem klebte?
Einen eleganten Rückzug – das war es, was ich von Sven erwartete. Bis dahin würde er von mir nicht mehr zu hören bekommen als einsilbiges Geknurre!
Ich schaute auf die Uhr: Es war kurz vor zwei. Essenszeit.
»Ich bestelle uns Pizza«, rief ich durch die Wohnung, »irgendwelche Sonderwünsche?«
»Schinken, doppelt Käse«, wünschte sich Dille.
»Salami«, sagte Petra, die während der letzten drei Stunden ihren gesamten Mageninhalt in die Kanalisation gespuckt hatte und jetzt neu aufgefüllt werden musste.
Sven sagte nichts. Ich hatte nicht übel Lust, ihm eine dreifache Portion Anchovis mit Ananas zu ordern.
Da in der neuen Wohnung noch kein Telefon angeschlossen war, rief ich Ginos Pizza Express von einer Telefonzelle aus an. Ich verlangte Gino persönlich.
»Hi, Gino, hier ist Piet. Du erinnerst dich, vom Maxomax?«
Gino war gebührend begeistert: »Ah, Piet! Toller Artikel, vielen Dank! Wir haben schon seit vierzehn Tagen eine echte Bestelllawine! Was willste? Geht alles auf uns!«
Ich hatte gehofft, dass er das sagt. Und Gino hatte ja tatsächlich allen Grund, mir dankbar zu sein. Ich hatte in den letzten Wochen nämlich begonnen, neben meinem Zivildienst, den ich bei der Johanniter-Unfall-Hilfe absolvierte, kleine Artikel für das Stadtmagazin Maxomax zu verfassen. Unter anderem einen Pizza-Lieferdienst-Vergleichstest, bei dem Ginos Mampfbude mit Abstand am besten abgeschnitten hatte. So mies, wie die Zeitung bezahlte, fand ich es nur fair, dass Gino mich für meine Leistung mit ein paar Gratispizzen entlohnte. Sollte ich tatsächlich, was ja mein Plan war, hauptberuflich Journalist werden, so hatte ich die erste Qualifikation bereits vorzuweisen: Ich wusste, wie man Connections aufbaute und dann für sich arbeiten ließ. Susann, die mittlerweile Geschichte und Französisch auf Lehramt studierte, behauptete allerdings, so etwas sei
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