Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Korruption.
»Korruption, mein Schatz«, lächelte ich überheblich, »wäre es nur, wenn Ginos Pizza Scheiße wäre und ich sie zu Unrecht gelobt hätte. Doch sein Essen und sein Service waren tatsächlich am besten. Gino zeigt sich bloß erkenntlich dafür, dass ich das erkannt und publiziert habe.«
»Du bist ein Haarspalter«, lachte Susann.
Ich grinste zufrieden. Noch etwas, was mich für eine journalistische Karriere zu qualifizieren schien.
* * *
Das Tuc Tuc war noch zwei Straßen entfernt – und Sven war kurz davor umzudrehen! Er stand auf dem Bürgersteig, hielt inne, und atmete tief aus. Was machte er hier? Allein auf dem Weg in die Schwulenkneipe? Was hatte sich Susann nur dabei gedacht? Sven war nicht der Typ für Schwulenkneipen! Okay, er war schwul … aber er gehörte nicht zu jenen Leuten, die allein in Kneipen gingen! Sven würde sich schon mulmig fühlen, wenn er allein ein ganz normales Restaurant beträte. Ihm würde selbst in der relativen Anonymität eines Karstadt -Schnellrestaurants vor lauter Nervosität die Gemüsebeilage aus dem Mund fallen, weil er das Gefühl hätte, alle anderen Gäste würden ihn beobachten. Ihn, den Solisten. Wo schaute man hin, wenn einem gegenüber kein freundliches und bekanntes Gesicht als visueller Fixpunkt zur Verfügung stand? Normalerweise, wenn Sven irgendwo allein saß – in der U-Bahn, im Wartezimmer eines Arztes, auf Behördenfluren –, dann las er. Irgendetwas. Sven würde sogar begeistert den Beipackzettel eines homöopathischen Mittels gegen Nasenbluten studieren, nur um nicht aufschauen zu müssen. Aber im Tuc Tuc – einer stadtbekannten Schwulenkneipe – ginge das nicht. Er ging ja schließlich nicht dort hin, um unauffällig zu bleiben. Er ging dort hin, um jemanden …
… kennen zu lernen!
Er wusste, man würde ihn mustern. Er wäre unter Beobachtung. Es wäre, als läge er in einem Schaufenster und über ihm blitzte eine Leuchtreklame: Frischfleisch!
Es war Susanns Idee. Und streng logisch betrachtet hatte sie ja durchaus Recht.
»Sven«, hatte sie eines Abends gesagt, »es kann nicht angehen, dass du die restlichen Abende deines Lebens allein vor dem Fernseher verbringst und die Waltons anschaust!«
»Ich bin nicht allein«, hatte Sven zaghaft gelächelt. » Du bist doch da.«
»Aber nicht mehr lange«, hatte Susann streng geantwortet. »Wenn ich John-Boy noch öfter sehe, muss ich kotzen!«
»Ich finde John-Boy süß«, hatte Sven gekichert.
»Du bist auch süß«, hatte Susann gelacht, ihm über den Kopf gestrubbelt und dann ein Machtwort gesprochen: »Geh raus in die Welt, such dir ein Männchen, mach dich selbst glücklich!«
Sven schluckte. Es war solch ein veritables Gulp , dass man glauben konnte, er hätte nicht nur eine Portion nervöser Spucke, sondern gleich seine ganze Zunge verschluckt.
Seit jenem Brunch, als er Susann zögerlich von seiner Homosexualität erzählt hatte, von seiner Einsamkeit, von seinem Vater, den das Schwulsein von seiner Familie fortgerissen hat, von seiner Mutter, die sich alle Mühe gab, nett zu ihm zu sein, die ihn nach wie vor liebte, aber ihn trotzdem behandelte, als hätte er eine schreckliche Krankheit … seit diesem Tag waren sich Susann und er noch näher gekommen als je zuvor. Sie war die Einzige, die sein Geheimnis kannte. Und sie war die Einzige, die die Sache mit den Schlaftabletten wusste. Er hatte ihr, nach vielen Tränen und langem Zögern, erzählt, wie er ein Wochenende bei seiner Mutter verbracht hatte. Er hatte Nachts in seinem alten Bett in seinem Kinderzimmer gelegen.
»In diesem Raum war ich mal glücklich«, hatte Sven Susann flüsternd erklärt, »und in diesem Raum, wo früher einmal alles in Ordnung war, wo die Welt simpel und beherrschbar schien, in diesem Raum wollte ich sterben. Ich schluckte dreißig Tabletten.« Doch bevor der endgültige Schlaf einsetzte, musste sich Sven übergeben, und seine Mutter, die seine rollenden Augen, seinen plötzlich ausbrechenden Schweiß beängstigend fand, hatte ihn ins Krankenhaus geschafft, wo man ihm den Magen auspumpte.
»Wolltest du wirklich sterben?«, hatte Susann gefragt.
Sven hatte mit den Achseln gezuckt. Er hatte sich diese Frage schon oft genug selbst gestellt und nie eine Antwort gefunden. Das Leben verlassen, nur weil man Männer liebte? Das wäre ja, zumindest aus streng rationeller Sicht, tatsächlich ausgemachter Schwachsinn.
Sven wunderte es aufrichtig, dass keiner der anderen Kirschkernspucker je
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