Die Depressionsfalle
Psychiatrie ist besonders anfällig für diesen Prozess. Die Diagnostik ist unscharf gegenüber den anderen Spezialgebieten der Medizin und die Grenzen zwischen âgesundâund âkrankâ sind bisweilen flieÃend, da sie von auÃermedizinischen Normbegriffen abhängig sind. Deshalb ist es viel leichter, die diagnostischen Begrenzungen zu erweitern bzw. neue Krankheiten zu erfinden als in anderen medizinischen Bereichen. Der Pharmaindustrie und ihren Interessen kommt diese Schwierigkeit sehr entgegen, und sie hat dieses Problem der Psychiatrie in ihre Marketingstrategie aufgenommen. Der Medizinethiker Carl Elliott sprach treffend davon, dass die Pharmaindustrie zunehmend nicht mehr Arzneimittel, sondern Krankheiten vermarktet.
Im Falle der Antidepressiva war die Pharmaindustrie zunächst bemüht, zu diesem Zweck die Depression neu zu definieren. Die Strategie bestand darin, einerseits die Serotonin-Hypothese zu verkünden, andererseits den âDepressionsmarktâ zu erweitern. âDepressionâ schloss nunmehr neben den klassischen, schweren Formen alle möglichen dysphorischen Erscheinungen (Missstimmungen) und traurige (Ver-) Stimmungen ein. Auf diese Weise wurde der Gebrauch der SSRI auf alle diese Erscheinungsformen ausgeweitet, die die Erzeugerfirmen selbst zu definieren mitgeholfen hatten. In der Folge wurden auch weitere Anwendungsgebiete in neu definierten âKrankheitsbildernâ erschlossen: Schüchternheit wurde zur Sozialphobie, eine eigene Störung der Befindlichkeit um die Regelblutung wurde erfunden, wie wir unserem Kapitel über die spezielle Problemlage des weiblichen Geschlechts ausgeführt haben. Nach den Anschlägen das 11. September 2001 eröffnete GlaxoSmithKline eine neue Werbekampagne für ihr ursprünglich als Antidepressivum gedachtes âPaxilâ/Seroxat. Aus der neuen nationalen Angst- und Stresssituation ergab sich ein neues Anwendungsgebiet und eine neue Werbestrategie. Paxil wurde nun als Mittel gegen das posttraumatische Stresssyndrom beworben.
Strategie 5: Beeinflussung der Ãffentlichkeit â Simplifizierung der Theorie bzw. der Darstellung der Theorie
In verschiedenen Ländern gibt es verschiedene Regulierungen der Bewerbung von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln. Während in Europa die direkte Werbung am Konsumenten in den üblichen Kommunikationsmedien verboten ist, ist diese Werbemethode inden USA seit 1997 erlaubt. Seither nutzen die Pharmaproduzenten das Fernsehen und Printmedien aller Art als Werbeträger. Als Eli Lilly mit âProzac 1 x wöchentlichâ eine neue Linie eröffnete, bewarb sie das Produkt mit Gutscheinen, die man aus Printmagazinen ausschneiden konnte.
Andere Strategien, direkt an den Konsumenten heranzukommen, war die Schaffung und Finanzierung von Selbsthilfegruppen, Informationswebsites und Kampagnen, die das Bewusstsein für Depressionen anregen sollten. In den Werbebroschüren und in den Fachinformationen hielten aus diesem Grund die Pharmafirmen der eingängigen Serotonin-Hypothese die Treue, auch als sie von der neurowissenschaftlichen Forschung bereits lange verworfen worden war.
Strategie 6: Einflussnahme auf die Patienten über Selbsthilfegruppen
Non-profit-Organisationen, gemeindebasierte Unternehmen und Selbsthilfegruppen haben üblicherweise einen guten Ruf in der Bevölkerung und genieÃen das Vertrauen Betroffener. Um ihren Werbekampagnen mehr Vertrauenswürdigkeit zu verleihen und um ihren Produkten ein besseres Image zu geben, nahmen die befassten Pharmakonzerne Kontakt zu derartigen Strukturen auf, um sie als Partner zu gewinnen. Die Ziele dieser Strategie waren:
⢠Umsatzsteigerung
⢠Die Verbesserung des eigenen Images als Fördereinrichtung für eine gute Sache
⢠Spezifischen Bedarf für ihre Produkte zu fördern und Loyalität gegenüber bestimmten Markenamen aufzubauen (die Patienten sollten dazu gebracht werden, ihrem Markenartikel weiter die Treue zu halten, nachdem günstigere Generika auf den Markt gebracht worden waren).
⢠Die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Produkten zu entwickeln â und zu steuern
⢠Unterstützung bei der Suche nach Kunden zu findenBereits bestehende oder von Firmen neu geschaffene Patientengruppen wurden genutzt, um direkte oder indirekte Werbung für SSRIs oder andere Stoffe zu machen. Am Anfang stehen bei solchen
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