Die Depressionsfalle
âVielen Ãrzten scheint noch heute die Psychotherapie als ein Produkt des modernen Mystizismus und im Vergleiche mit unseren physikalisch-chemischen Heilmitteln, deren Anwendung auf physiologischen Einsichten gegründet ist, als geradezu unwissenschaftlich, des Interesses eines Naturforschers unwürdig. Gestatten Sie mir nun, vor Ihnen die Sache der Psychotherapie zu führen und hervorzuheben, was an dieser Verurteilung als Unrecht oder Irrtum bezeichnet werden kann. Lassen Sie mich also fürs Erste daran mahnen, dass die Psychotherapie kein modernes Heilverfahren ist. Im Gegenteil, sie ist die älteste Therapie, deren sich die Medizin bedient hat [â¦] Auch nachdem die Ãrzte andere Heilmittel aufgefunden haben, sind psychotherapeutische Bestrebungen der einen oder der anderen Art niemals untergegangen.
Fürs Zweite mache ich Sie darauf aufmerksam, dass wir Ãrzte auf die Psychotherapie schon darum nicht verzichten können, weileine andere, beim Heilungsvorgang sehr in Betracht kommende Partei â nämlich die Kranken â nicht die Absicht hat, auf sie zu verzichten. [â¦] Ein von der psychischen Disposition des Kranken abhängiger Faktor tritt, ohne dass wir es beabsichtigen, zur Wirkung eines jeden, vom Arzt eingeleiteten Heilverfahrens hinzu, meist im begünstigenden, oft auch im hemmenden Sinn. [â¦] Ist es dann nicht ein berechtigtes Streben des Arztes, sich dieses Faktors zu bemächtigen, sich seiner mit Absicht zu bedienen, ihn zu lenken und zu verstärken? Nichts andres ist es, was die wissenschaftliche Psychotherapie Ihnen zumutet.
Zu dritt, meine Herren Kollegen [1904 gab es im Publikum nur Männer, Anm.], will ich Sie auf die altbekannte Erfahrung verweisen, dass gewisse Leiden, und ganz besonders die Psychoneurosen, seelischen Einflüssen weit zugänglicher sind als jeder anderen Medikation [â¦].â 27
Die psychiatrische bzw. psychotherapeutische Diagnose depressiver Leidenszustände
Auch bei der Behandlung von Depressionen gilt, was der griechische Arzt Hippokrates (ca. 500 v. Chr.) konstatiert hat: âVor jeder Behandlung hat die Diagnose zu stehen.â Von zentraler Bedeutung ist dabei das diagnostische Erstgespräch. Die Art und Qualität dieses Erstgesprächs (Erstinterviews) sind die Basis für die Indikationsstellung zur Behandlung. Das gilt für alle bei Depressionen prinzipiell in Frage kommenden Behandlungsmethoden: sei es die medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka, eine Psychotherapie und auch (in seltenen, sehr schweren Fällen) die Elektrokonvulsionsbehandlung â¦
Für die Indikationsstellung zur Psychotherapie muss das Erstinterview eine Antwort auf die Frage geben, welches psychotherapeutische Setting (welche Rahmenbedingungen, welche Methode) für eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation optimal bzw. angemessen ist. Hinsichtlich der Rahmenbedingungen soll die Frage geklärt werden, ob eine ambulante oder eine stationärePsychotherapie indiziert sind; hinsichtlich der Methode sollte das Erstinterview einen Hinweis darauf liefern, welche der therapeutischen Methoden auf der Basis einer âPsychologie vom Menschenâ für einen bestimmten Patienten/eine bestimmte Patientin am ehesten geeignet scheint. Es bedeutet auch, dass die das Erstgespräch führende Person über Wissen zu den psychotherapeutischen Schulen und Methoden, über Psychopharmaka und über Bedingungen der Kombination von Psychotherapie mit der Behandlung mit Psychopharmaka verfügen muss. Die Wünsche der Patienten hinsichtlich des Settings â z.B. ob Einzel- oder Gruppentherapie bevorzugt wird, etc. â finden Berücksichtigung. Das diagnostische Erstgespräch hat fast immer einen prozesshaften Charakter, es sind mitunter mehrere Gespräche erforderlich, um zu einer endgültigen Diagnose zu kommen.
Die für eine endgültige Diagnose und Behandlungsindikation erforderlichen Inhalte können in drei ineinandergreifende Phasen unterteilt werden: die Phase der Erhebung der Beschwerden (Symptome) und der Befindlichkeit; die Phase der Erhebung der aktuellen Lebenssituation und der demografischen Daten; schlieÃlich muss die persönliche Lebensgeschichte (Biografie) der Patienten thematisiert werden.
Das persönliche diagnostische Erstgespräch kann durch die Anwendung psychometrischer Tests ergänzt werden. Das sind meist einfache Fragebögen, die von den
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